Montag, 1. Juni 2009

Die Reise - Teil 2

Ich blieb bis um 21 Uhr im Foyer. Dann packte ich meine Sachen zusammen und machte mich auf den Weg zur Metro. Ich hatte Nicola noch mal wegen dem richtigen Bus gefragt und wie ich es mir bereits gedacht hatte, war es nicht der, den ich vor wenigen Tagen für teuer Geld genommen hatte. Das beste wäre der Orly Bus der Pariser Verkehrsbetriebe. Koste auch nur 6,80 € und damit die Hälfte von den Air France Bussen. Na dann würde meiner Reise nach Berlin ja nichts mehr im Weg stehen. Nach Dublin und Lyon gingen meine Nächte an Flughäfen in Paris nun also in die nächste Runde. Mit der Metro fuhr ich bis zur Station Denfert Rochereau, von wo aus der Orly Bus abfährt. Es ging auch sofort los. Um die Zeit war auf der Autobahn kaum noch Verkehr und so brauchte der Bus nicht ganz 30 Minuten und ich stand mit meinem Koffer vor dem Terminal Süd des Flughafens Orly.

Noch 7 Stunden bis zum Abflug:

Erst mal kaufte ich mir ein belegtes Baguette und eine Flasche Wasser. Viel los war im Terminal nicht mehr. Auf der Anzeigetafel der landenden Maschinen standen nur noch einige wenige Flüge aus Nordafrika. Ansonsten war Nachtruhe angesagt. Ich war aber bei weitem nicht der einzige, der hier die Nacht verbringen würde. Auf den Bänken verstreut saßen die Leute mit Büchern, ihren Computern oder mit den Leuten, mit denen sie reisten. Ich aß mein Baguette und machte den Laptop an. Hatte ja einige Filme auf der Festplatte, mit denen ich mir die Zeit vertreiben könnte. Nach nicht mal zwei Stunden war aber schon der Akku leer. Wenige Meter entfernt war eine Laptopstation mit Steckdosen, da hätte ich hingehen und den Laptop wieder aufladen können. Aber da es sich um ein Stehpult handelte und ich auf Stehen absolut keinen Bock hatte, machte ich den Laptop aus und blieb sitzen.

Noch 5 Stunden bis zum Abflug:

Ich weiß nicht, ob das normal ist, aber Orly wird irgendwann nach Mitternacht abgesperrt und dichtgemacht. Das Licht wird gedimmt und keiner kommt rein oder raus. Als letztes kam ein Airbus A 321 der Atlas Blue aus Marokko an und nachdem die Fluggäste das Terminal verlassen hatten, wurden wir eingeschlossen. Christian, ein anderer ASF’ler, hatte mir davon schon mal erzählt, es scheint hier also normal zu sein. Als ich die Nacht in Lyon am Flughafen verbracht habe, blieb der die ganze Zeit offen. In Dublin war es ebenfalls so. Und in Berlin habe ich davon auch noch nie etwas gehört, dass sie die Terminals während der Nacht schließen. Es ist auf jeden Fall ein echtes Erlebnis. Keiner sagt einen Ton. Die einzigen Geräusche kamen von dem Typ, der auf seiner Maschine sitzt und den Böden wienert. Eine Stunde lang. Hin und her. Ist ja auch nen scheiß Job. Ansonsten war es ein Geisterterminal. Ab und zu kam die extrem laute Bandansage mit nervigem Jingle am Anfang, man solle sein Gepäck aus Sicherheitsgründen nicht unbeaufsichtigt lassen. Und dafür wecken die die Leute, die schlafen wollen? Höchst unfreundlich. Ich hatte bis zu dem Zeitpunkt aber noch kein Auge zugemacht. Waren viel zu ungemütlich diese Stühle. Und durch die Lehnen kann man sich nicht mal hinlegen. Es gab auch welche ohne, aber die letzten drei hatte mir so eine Oma weggeschnappt. Die schlief auch ganz gemütlich. Ich konnte nur meinen Koffer nehmen und ihn als Fußstütze benutzen. So konnte ich wenigstens etwas dösen.

Noch 2 Stunden bis zum Abflug:

Irgendwie ging die Zeit recht fix um und gegen 4 entschied ich mich, mal auf Toilette zu gehen. Hatte schon die ganze Flasche Wasser ausgetrunken, das drückte jetzt auf die Blase. Ich ließ meine Sachen entgegen den nervigen Ansagen also einige Minuten unbeaufsichtigt. Wer sollte die schon klauen? Weit würde man eh nicht kommen, ist ja alles abgesperrt. Auf der Suche nach den Klos konnte ich gleichzeitig auf den Anzeigetafeln schauen, ob für meinen Flug der Check-In demnächst beginnen würde. Und siehe da, er hatte bereits geöffnet. Ich musste mit meinem Gepäck wieder eine Etage tiefer. Dort befinden sich die Gepäckausgabe und der Check-In. Außer mir war keiner da und so war ich meinen Koffer bereits um Viertel nach Vier los. Um zum Gate zu gelangen, musste ich nun wieder eine Etage höher. Die Sicherheitsschleusen waren noch nicht geöffnet, also setzte ich mich hin und wartete noch etwas. Es dauerte aber keine 10 Minuten und es konnte los gehen. Da kaum was los war, konnte ich ohne warten und anstehen passieren. Auch mal ganz angenehm. Ganz ohne Zeitdruck meckerte ich nicht mal, dass ich meinen Gürtel ausziehen musste, da er aus Metall war. Würden die mal ihren Verstand gebrauchen, würde man in der selben Zeit deutlich mehr Leute durch die Schleusen kriegen, da sich nicht alle ausziehen müssten. Einen Gürtel hat doch jeder. Auf einmal sind die Dinger gefährlich, da es eine getarnte Bombe sein könnte, oder was? Regeln sind immer nur so dämlich wie die Menschen, die sie einhalten.

Noch eine Stunde bis zum Abflug:

Aber all das konnte mich an diesem Morgen nicht aufregen, nicht wenige Stunden vor meiner Ankunft in Berlin. Ich lief langsam und müde zu meinem Gate B14. War praktischer Weise am anderen Ende des Ganges. Ich setzte mich in die Nähe von B14 und packte meinen Laptop wieder aus. Gleich neben der Sitzgarnitur gab es Steckdosen. Extra für Handys und Laptops. Coole Sache. Durch so was sieht man, dass man in einer echten Weltstadt ist. Berlin ist da irgendwie eher provinziell. Hoffentlich nutzen sie die Chance und machen es am neuen BBI besser. Ich schrieb noch etwas für meinen blog. Da war ich eh schon etwas ins Hintertreffen geraten und musste einiges aufholen. Zu dem Zeitpunkt hatte ich gerade mal die ersten Wochen in Nizza verhackstückt. Ich war aber inzwischen schon über drei Monate dort. Daher nutzte ich jede Gelegenheit, etwas zu schreiben. Gegenüber saß ein Mädchen, vielleicht ein oder zwei Jahre jünger als ich und auch sie saß an ihrem Laptop und schrieb. Das ist wohl die Generation von heute, die eben noch mal zwischen Paris und Berlin einen Artikel schreibt oder korrigiert und dieser im www zu sehen ist, noch bevor das Boarding überhaupt begonnen hat.

Das begann gegen 5:30 Uhr mit dem üblichen Procedere. Zuerst die Leute mit Speedy Boarding, dann die mit Kindern und dann die Boarding-gruppen A und B. Durch mein frühes Einchecken war ich diesmal in Gruppe A. Ich betrat das Flugzeug, das mich nach Hause bringen würde also als einer der ersten. Zum Glück, denn der Flug war randvoll. Ich verstaute meine Sachen, setzte mich hin und machte die Augen zu. Die Sitze waren schon viel bequemer als die im Terminal und bis zum Start würden eh noch einige Minuten vergehen. Zeit für ein Nickerchen. Ich wachte auf, als wir bereits rollten und dann gab der Pilot auch schon Gas. Mühelos und ruhig erhoben wir uns in den Pariser Nachthimmel, der um kurz nach 6 natürlich noch komplett dunkel war. Ein irrer Anblick, mit all den vielen Lichtern. Dann drehten wir ab und ich probierte wieder etwas zu schlafen. So wirklich kann ich das aber wohl nur in einem richtigen Bett. Mehr als dösen war nicht drin. So nahm ich mir irgendwann das Bordmagazin vor, bestellte einen frischen Orangensaft und freute mich auf zu Hause.

Nach ungefähr 90 Flugminuten war es dann so weit. Ich hörte, wie die Triebwerke gedrosselt wurden und so verließen wir unsere Reiseflughöhe von 36.000 Fuß und begannen mit dem Anflug auf die geilste Stadt der Welt. Die ersten Sonnenstrahlen lugten gerade über den Horizont und man hatte das Gefühl, Berlin von oben dabei zusehen zu können, wie es langsam erwachte. Und jeder an Bord wusste, dass es etwas ganz besonderes war. Klar, es landen pro Tag etwa 400 Flugzeuge in Berlin, aber wie viele von denen erleben wohl den Sonnenaufgang sozusagen auf Augenhöhe mit? Vielleicht nur eines.

Wir flogen von Osten an und landeten schließlich auf der Landebahn 25L. Bei Landebahnen steht die Zahl immer für die Himmelsrichtung, in der sie liegt. Diese sind in Form eines Kreises in 360 Grad unterteilt. 360 beziehungsweise 0 Grad ist Norden, 90 Grad Osten, 180 Grad Süden und 270 Grad Westen. Die 25L in Schönefeld liegt also nahezu in Ost-West-Richtung. Wie die meisten Landebahnen in Deutschland. Das liegt ganz einfach daran, dass dies den Hauptwindrichtungen entspricht und da Flugzeuge immer gegen den Wind landen und starten müssen, sind die meisten Landebahnen entsprechend ausgerichtet. Tegel beispielsweise besitzt eine 26R und 26L. Also zwei parallele Bahnen, R steht für rechts und L für links. So können sich nicht mal die dämlichsten Piloten in der Bahn irren, solange sie rechts und links unterscheiden können. In Schönefeld ist das eh schwer, da die 25R im Zuge der Bauarbeiten für den BBI geschlossen und abgerissen wurde. So ist die 25L zur Zeit noch die einzige Landebahn in Schönefeld. Der BBI wird aus zwei parallelen Bahnen bestehen, zwischen denen sich zentral die neuen Terminals befinden werden. Die Bauarbeiten für die neue südliche Bahn haben bereits begonnen. Diese wird dann die neue 25L und die heutige 25L wird dann logischer Weise zur 25R. Kommt ihr noch mit? Jede Landebahn hat übrigens 2 Bezeichnungen. Sie hat ja zwei Enden und jedes liegt in einer anderen Himmelsrichtung. Wenn ihr also aufgepasst hat, dann kennt ihr auch die zweite Bezeichnung der 25L.

Wie auch immer, ich war wieder in Berlin und darüber überglücklich. Auf meinen Koffer musste ich am Gepäckband allerdings ziemlich lange warten, er kam fast als letzter raus. Im Terminal warteten dann aber bereits Marcel und Martin auf mich, die als einzige so früh den weiten Weg in den Osten gewagt hatten. Es tat verdammt gut, mal wieder in vertraute Berliner Gesichter zu blicken. Wir liefen schnurstracks zum Bahnhof und erfreuten uns der lustigen Anzeigetafeln, wo sich an dem Morgen ein Fehlerteufel eingeschlichen hatte. Hier und dort fehlte ein Buchstabe und die Ortsbezeichnung Naaz war uns sogar völlig neu. Sollte Nauen heißen, soviel haben wir noch rausgefunden. Wir fuhren ohne Schreibfehler bis zum Hauptbahnhof, wo wir uns spontan entschieden, bei McDonalds frühstücken zu gehen. Ist zwar nicht meine erste Wahl, aber ich hatte Hunger und spezielle Momente erfordern manchmal eben auch ein spezielles Handeln. Ich habe die beiden eingeladen, das war es mir wert, nachdem sie mich um 9 Uhr früh vom Flughafen abgeholt hatten. Anschließend fuhren wir mit der S-Bahn weiter und in Tiergarten stieg ich aus und wahr endgültig zu Hause angekommen.

Urlaub in Berlin – Im nächsten Blog erfahrt ihr mehr.

Montag, 18. Mai 2009

Das Dezember-Seminar

Die Fahrt vom Flughafen Orly zum Gare Montparnasse dauerte etwas mehr als eine halbe Stunde. Dort brauchte ich dann noch mal ungefähr 10 Minuten, um den Eingang zur Metro zu finden und weitere 10 Minuten, bis ich am Bahnsteig der richtigen Linie stand. Ein unglaublich riesiger und unübersichtlicher Bahnhof. Sicher um einiges weitläufiger als der Berliner Hauptbahnhof und das will schon was heißen. Ich war auf jeden Fall froh, als ich das Getümmel und Geschupse hinter mir hatte, zumal ich ja immer noch diesen verkrüppelten Koffer an der Backe hatte.

Eine Station musste ich mit der Metro fahren und von dort dann noch einige Meter bis zum Foyer laufen. Es war bereits 14:30 Uhr und durch die Verspätung meines Fluges würde ich bestimmt einer der letzten Freiwilligen sein. Wir waren den Weg vom Foyer zur Metrostation im September einige Male gelaufen, aber andersrum hatte ich mir den Weg nie wirklich eingeprägt, da ich ihn nie alleine bewältigen musste. Ich blieb also kurz stehen. Irgendwo musste ich links abbiegen. Aber wo? Ich hatte echt keine Ahnung, ob es diese, die nächste, oder doch die übernächste Straße war. Ich bog dann einfach auf gut Glück ab, merkte aber bald, dass ich nicht richtig war. Ich lief aber weiter und kam bald an dem kleinen Park vorbei, in dem wir im September das Picknick gemacht hatten. Super, von dort aus kannte ich den Weg zum Foyer. Ich war nur eine Straße zu früh abgebogen. Vorm Foyer angekommen, merkte ich, dass ich den Code der Tür vergessen hatte. Auch so ne französische Macke. Die stehen total auf Türen mit Zahlenkombinationen. Die meisten Einrichtungen haben das hier. Selbst viele normale Wohnhäuser. In Deutschland reichen Schlüssel.

Gleich neben der Tür im Erdgeschoss befindet sich der große Konferenzsaal, in dem sich bereits viele Freiwillige befanden. Da das Fenster offen war, rief ich einfach rein und fragte nach dem Code. Dann war ich drin und konnte meine Sachen abstellen und allen Hallo sagen. Ich war tatsächlich fast der Letzte. Und so hatte ich mal wieder meinen besonderen Auftritt. Der einzige, der mit dem Flugzeug angereist war. Ich kam mir schrecklich cool vor:
„Sorry Leute, mein Flug hatte wegen dem scheiß Wetter Verspätung.“
„Ach, du bist geflogen? Warum das denn?“
„Erstens, weil der TGV genau so viel kostet, es zweitens anstatt 6 Stunden nur 1 Stunde und 20 Minuten dauert und drittens einfach cooler kommt. Findet ihr nicht?“

Man kann sagen, dass die Stimmung sehr entspannt war und sich alle viel zu erzählen hatten. Standardfrage natürlich, wie es im Projekt so laufe und wie die Fahrt war. Ach ja, du bist ja geflogen, hörte ich dann immer, und jedes Mal musste ich innerlich grinsen. Ich hatte es am Anfang nicht so wahrgenommen, aber langsam merkte ich, dass ich durch meine Projektlage sozusagen der Bonze unter den Frankreich-Freiwilligen war. Die Côte d’Azur ist für Europa so was wie Miami Beach für die USA. Der Ort für die Reichen und Schönen. Dort, wo sich der internationale Jetset die Klinke in die Hand drückt. Ich hatte damit zwar weniger zu tun, aber trotzdem war ich jetzt ein Teil davon.

Ich bemerkte, dass sich jeder Freiwillige irgendwie automatisch mit der Gegend identifizierte, in der er lebt und arbeitet und auch von den anderen damit identifiziert wird. Ein erstaunliches Phänomen. In den Köpfen der Anderen war ich damit eben einfach der Kerl aus dem sonnigen und reichen Süden, wo eigentlich nur die leben, die entweder dort geboren wurden, oder genug Kohle haben, um dort Urlaub zu machen. Ich war weder das eine, noch hatte ich das andere und das machte mich nur scheinbar zum Bonzen. Ich benahm mich lustiger Weise aber auch dementsprechend. Aber was soll ich sagen. Ich kann mit meinem Image sehr gut leben. Ich habe geographisch einfach das große Los gezogen. Und natürlich hätte der Zug gereicht. Hab ja aber nen Ruf zu verlieren.

Wie ja schon einmal erwähnt, wurde das Seminar so organisiert, dass wir es mit französischen Freiwilligen zusammen durchführen konnten, die auch bereits alle da waren. Mit den ersten machten wir schon flüchtig Bekanntschaft. Wir wurden aber von unseren Teamern, also Nicola, Heidi, Idan sowie den Leitern der französischen Freiwilligen, unterbrochen, um eine wichtige Angelegenheit vorweg zu klären. Die Zimmerverteilung. Die kleine Empfangshalle des Foyers ist für so viele Leute und deren Koffer nicht ausgelegt. Das Gepäck stapelte sich daher teilweise bis zur Decke und an einigen Stellen war ein Durchkommen nicht mehr möglich. Nachdem alle aufgeteilt waren, sollten alle ihr Gepäck auf ihre Zimmer bringen. Im September waren wir nur 18 Freiwillige gewesen, aber jetzt, mit den Franzosen waren wir fast 40. Eine echte logistische Herausforderung für so ein enges Haus.

Wir hatten eine halbe Stunde Zeit, um uns auf den Zimmern einzurichten und uns nach den Reisestrapazen kurz zu duschen. Machten auch fast alle. Ich war zwar nicht so lange unterwegs gewesen, ohne das Warten wegen der Verspätung des Fluges knappe drei Stunden, aber ich hatte mit meinem Koffer wieder einiges zu schleppen. Der war wie im September randvoll, da bringen einen Treppen auch im kalten Dezember ins Schwitzen. Die anderen hatten ebenfalls viel Gepäck dabei, da fast alle, wie ich, nach dem Seminar nach Deutschland weiterreisen würden, um Weihnachten mit der Familie zu feiern. Da freute sich hier jeder drauf. Ist ja auch logisch, nach fast 4 Monaten in Frankreich.

Die erste Station des Programms an diesem Tag war der Gemeindesaal irgendeiner Einrichtung. Mit der hatte ASF nichts zu tun, aber es war wohl der einzige Saal in der Nähe, der groß genug für uns alle war. Wir fuhren mit dem Bus, auch wenn es nicht so weit war, aber nach der Anreise war man so gütig, uns wenigstens das Laufen zu ersparen. Das Wetter war immer noch grau und diesig. Der Tour Montparnasse am gleichnamigen Bahnhof, nach dem Eiffelturm das höchste Gebäude in Paris, war gerade noch so bis zur Spitze zu erkennen. Im Gemeindesaal angekommen, gab der obligatorische Stuhlkreis der Sache den gewissen Selbsthilfegruppe-Charakter, zudem wir uns dann natürlich noch alle vorstellen sollten. Das offizielle Kennenlernen der beiden Gruppen also. ASF wäre aber nicht ASF, wenn so eine Runde normal ablaufen würde.

Der Witz sollte der sein, dass nicht einfach jeder seinen Namen sagen sollte und dann der nächste dran sein würde. Marke „Hallo, ich bin Marko und bin seit gestern trockener Alkoholiker“. Nein, es wurde einfach ein Gedächtnistraining daraus gemacht, indem jeder die Namen seiner Vorredner gleich mitsagen sollte. Derjenige, der anfing, hatte es da ja noch leicht, aber denkt mal an die arme Sau am Schluss, die 40 Leute vor sich hatte. Zumal es ja nicht nur banale Namen wie Peter oder Dieter waren. Mit den Namen der Franzosen hatten wir so unsere Probleme. Ich hatte Glück, unter ihnen war ein Simon und ich war mehr oder weniger in der Mitte. Alle Namen hab ich aber trotzdem nicht zusammenbekommen. Ach so, ich habe noch gar nicht erwähnt, dass die Franzosen bis auf zwei oder drei Ausnahmen kein Wort Deutsch sprachen und das Seminar daher durchweg auf Französisch gehalten wurde.

Es folgten noch einige weitere drollige Spiele. Der Sinn eines davon war wohl, etwas über die anderen im Bezug auf ihr freiwilliges Jahr herauszufinden. Dazu standen alle auf, eine Person sollte vortreten und etwas über sich und ihren Arbeitsalltag sagen und diejenigen, die sich damit identifizierten, sollten ebenfalls vortreten und sich in gewissen Momenten mehr oder weniger outen. Als eine Französin herausschmetterte, sie würde den Chef ihres Projektes nicht leiden können, was glaubt ihr, wer der erste war, der einen großen Schritt nach vorne machte...

Als die Gruppensitzung zu Ende war, kannten wir uns auf jeden Fall schon deutlich besser und lustig war es auch gewesen. Trotzdem hatten wir inzwischen Hunger. Ich hatte zuletzt um 9 Uhr morgens in Nizza am Flughafen etwas gegessen und inzwischen war es 19 Uhr. Zwischendurch kamen wir ja zu nichts. Auch typisch ASF. Die Seminarprogramme sind für die Dauer der Seminare immer chronisch überfüllt. Für ordentlich Essen nach der Ankunft ist da natürlich keine Zeit. Wir wurden ja aber erlöst und zu Fuß ging es durch die Straßen unseres Kiezes, bis wir in einer modernen Wohnsiedlung angekommen waren, in deren großem Innenhof uns ein einladender Laden mit dem Namen Moulin Café in Empfang nahm. Dort sorgten größtenteils ehrenamtliche Leute für eine preiswerte Verköstigung von Jugendgruppen, Schulklassen und ähnlichem. Und eben ASF plus Franzosen mit schwierigen Namen im Schlepptau. Es schmeckte auch wirklich gut und nach rund zwei Stunden ging es zurück ins Foyer. Die meisten machten nicht mehr lange und gingen früh ins Bett, um sich von der Reise zu erholen. Einige wenige zogen noch los, aber auch sie waren weit vor Mitternacht wieder da. Ich dagegen nutzte die seltene Möglichkeit, auch mal nach 21:30 Uhr im Internet zu surfen. Kam ja kein letzter Bus, den ich erwischen musste. Und das w-lan im Foyer wollte schließlich genutzt sein.

Der nächste Tag war vom Wetter her deutlich besser. Strahlend blauer Himmel und viel wärmer als am Vortag war es auch. Der erste Programmpunkt an diesem Morgen sah direkt nach dem Frühstück, das immer bis 9:30 Uhr ging, ein Meeting im großen Saal des Foyers vor. Dort wurde das Übliche Geplänkel abgehalten. Verrückte Spiele, wie sich in einen Kreis stellen, die Augen schließen, sich steif stellen und sich wie eine Boje hin und her schubsen lassen. Sinn der Sache? Vertrauen aufbauen zu Leuten, die man nicht oder kaum kennt, dass sie einen nicht fallen und dumpf auf den Boden aufschlagen lassen. Manchmal sind mir die Methoden von ASF etwas zu new age-mäßig und zu weit vom eigentlichen Themenschwerpunkt entfernt. Aber am Ende sieht man überraschender Weise immer einen gewissen Sinn in den Aktionen. Man muss nur lange genug suchen.

Nach dem Morgenmeeting ging es wieder ins Moulin Café zum Mittagessen und danach statteten wir einer Kiezeinrichtung einen Besuch ab, zu der ASF engere Kontakte pflegt. Dieses Projekt hatte es sich zur Aufgabe gemacht, aus eigener Kraft eine Art Kiezverwaltung aufzubauen, die sich um die üblichen Angelegenheiten kümmert, die dort so anfallen. Kiezpolizei, Streitschlichtung, Projekt schönere Spielplätze und sicherere Straßen und auch Unterstützung von finanziell schwachen Familien. Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, gehört dazu unter anderem auch ein Programm für Eltern und vor allem junge Mütter, das ihnen helfen soll, wie sie sich in Konfliktsituationen mit ihren Kindern verhalten sollen. An sich alles sehr interessant, aber irgendwie wurde mir der Zusammenhang zu ASF und den Themengebieten unserer Projekte nicht direkt bewusst. Klar, der soziale Zusammenhang ist logisch, aber es passte halt so gar nicht zu den sonst üblichen Punkten auf der ASF-Programmliste. Und dann war da noch eine Frau des Kiezprojektes, die eine halbe Stunde lang so schnell ihren Vortrag runterrasselte, dass ich und die meisten anderen bereits nach 2 Minuten aufgegeben hatten, etwas zu verstehen. Wir waren erst 4 Monate hier, so schnell geht das mit dem Sprachverständnis dann nun doch nicht.

Man hätte diesen Punkt sicher auch weglassen können. Es zog sich hin wie ein Kaugummi, aber irgendwann ging es dann doch zum Abendessen. Diesmal aber nicht ins Moulin Café, sondern in eine Universitäts- cafeteria. Wie immer liefen wir dort zu Fuß hin. Geht auf die Dauer zwar echt auf die Knochen, aber so kann man in Ruhe Ecken von Paris entdecken, die einem in der Metro oder im Bus entgehen würden. Wir kamen zum Beispiel an einem Platz vorbei, auf dem früher die berühmte Bastille stand. Wusste ich vorher überhaupt nicht. Heute ähnelt der Platz irgendwie dem großen Stern in Berlin. Ein viel befahrener Kreisverkehr mit einem schönen Monument in der Mitte. In der Abendstimmung gab das eine tolle Atmosphäre ab.

Wir liefen dann am Wasser weiter, an das der Platz der Bastille angrenzt. Dort befindet sich ein kleiner Hafen. Wir unterquerten eine nicht beleuchtete Brücke, deren Zutritt eigentlich nicht erlaubt war und überquerten auf einem kleinen klapprigen Schleusentor die Hafeneinfahrt, jeder einzeln, denn für zwei war es nicht breit genug und die Mädels hatten Schiss, es könnte nicht halten. Da kam fast Abenteuerstimmung auf und wir scherzten, wir würden ASF petzen, was Nicola mit uns für Sachen machen würde. Sie hat nur grinsend geantwortet, es wäre halt eine Abkürzung. Auch das ist ASF. Simpel, pragmatisch und auch mal auf Regeln pfeifend. Wie erfrischend. Spaziergänge im Dunkeln an den Ufern der Seine sind auf jeden Fall immer die schönsten Momente der Seminare. Die vielen beleuchteten Ausflugsdampfer und Frachtkräne, die einen begleiten, erinnern einen dann wieder daran, dass man in einer Weltstadt ist. Sonst würde man vielleicht denken, man sei irgendwo auf dem Land auf einen kleinen Flusslauf gestoßen.

Irgendwann kamen wir auch an Notre Dame, Paris berühmtester Kirche, vorbei. Die hatte ich vorher noch nie in Natura gesehen und als wir am anderen Ufer auf ihrer Höhe waren, musste ich sogar fragen, da ich mir nicht sicher war. Auf Fotos hatte ich sie natürlich schon des öfteren gesehen, aber es ist dann doch etwas anderes, wenn man davor steht. Ich habe das Bild etwas bearbeitet. So sieht es meiner Meinung nach interessanter aus.

Das Essen in der Unikantine konnten wir uns selber zusammenstellen, solange es 6 Punkte nicht überschritt. Ein Apfel zum Nachtisch stellte zum Beispiel einen Punkt dar, das Hauptgericht drei. Je nachdem, ob man Wert auf einen größeren Nachtisch oder eine größere Vorspeise legte, konnte man also frei wählen. Ich nahm einen Salat als Vorspeise und eine Ananasscheibe als Dessert. Auf jeden Fall wurde jeder satt und als wir in Richtung Foyer aufbrachen, war es schon wieder 21 Uhr. Unterwegs machten wir Halt und deckten uns mit Wein und Bier ein. Der erste deutsch-französische Gemeinschaftsabend also. Kurzer Hand wurde die vierte Etage des Foyers, an die auch die Terrasse grenzt, in eine multinationale Partyzone umgewandelt. Musik kam unter anderem aus meinem Laptop, den ich ja zum Glück überall mit hin schleppte. Und mit über 30 GB Musik kann sich die Auswahl auf jeden Fall sehen lassen.

Bis um drei wurde gesungen, getrunken, den Franzosen verzweifelt versucht etwas Deutsch beizubringen und viel gelacht. Ich weiß nicht wieso, aber irgendwie scheinen Deutsche und Franzosen gut zueinander zu passen. Vielleicht gerade wegen der kriegerischen Vergangenheit. Alle paar Jahre ging es von vorne los und weiß der Geier, wie oft Elsass und Lothringen den Besitzer wechseln mussten. Je nachdem, wer halt gerade den letzten Krieg gewonnen hatte. Heute sind wir vielleicht endlich so weit, dass uns gerade diese Konflikte, inklusive der beiden Weltkriege, zusammenschweißen. Jahrhunderte haben wir uns bekriegt, bis wir begriffen haben, dass wir eigentlich gar nicht so verschieden sind, die selbe Kultur haben und es gemeinsam viel mehr Spaß macht, als sich ständig die Köpfe einzuschlagen. Dieser Abend auf der Dachterrasse eines Pariser Hauses war ein gutes Beispiel dafür. Wie hat einer von uns so schön gesagt: „Von mir aus könnt ihr das Elsass haben. Wir haben dafür das bessere Bier und die schöneren Autos.“

Durch das Feiern fiel uns das Aufstehen natürlich nicht gerade leichter und bei einigen war es besser, sie beim Frühstück gar nicht erst anzusprechen. Nach dem Frühstück gab es die Auswertungsgespräche mit unseren Leitern, also Nicola, Idan und Heidi. Die wollten natürlich wissen, wie es in unseren Projekten angelaufen sei, da sie uns seit dem Beginn des Dienstes im September nicht mehr gesehen hatten. Natürlich wussten sie durch den E-Mail-Kontakt und die übliche Mundpropaganda in etwa bescheid über ihre Schützlinge, aber jetzt nahm man sich eben noch mal etwas mehr Zeit.

Schon beim Frühstück hatte Matthi, der in der Arche Paris arbeitet und damit eigentlich mein Kollege hätte werden sollen, die spontane Idee, zu einem Fussballspiel von Paris St. Germain zu gehen. Die würden am späten Abend im UEFA-Cup gegen den holländischen Vertreter Twente Enschede spielen. Da aber nicht sicher war, ob es noch Karten geben würde und wie viel sie kosten würden, ließen wir die Idee erst mal im Raum stehen. Eine kleine Gruppe hatte sich aber gefunden, die gerne hingehen würde, ich war natürlich mit dabei. So was lass ich mir doch nicht entgehen, wenn es sich anbietet.

Am Abend, nach Beendigung des Programms, fuhren wir mit der Metro zum Arc de Triomphe, der an der Pariser Prachtstraße, dem Champs Elysee, angrenzt. Da viele der französischen Freiwilligen vorher noch nie in Paris gewesen waren, wurden natürlich viele Fotos geschossen. Es kam schon etwas komisch daher, dass wir Paris besser zu kennen schienen, als die Franzosen unter uns. Verdrehte Welt.

Wir schlenderten gemütlich über den weihnachtlich geschmückten und leuchtend strahlenden Champs Elysee. Ziel für einige von uns war der PSG-Fanshop, in dem man natürlich auch Karten für deren Spiele kaufen kann. PSG ist die geläufige Abkürzung für den bekannten Fußballclub Paris St. Germain. Als wir dort waren, musste ich an Benny denken. Dem würden dort sicher die Augen ausfallen. Wirklich alles, was das Fußballerherz begehrt.

Und für uns gabs die gewünschten Karten. Es gab noch mehr als genug und mit 25 € pro Karte lag es noch im Rahmen dessen, was man sich mal gönnen kann, wenn man in der französischen Hauptstadt ist. Somit war geklärt, wo wir den Abend verbringen würden. Im Parc des Princes, also im Prinzenpark. Nach dem Stade de France das zweitgrößte Stadion in Paris mit etwa 50.000 Sitzplätzen. Bis zum Anpfiff war noch viel Zeit, also liefen wir noch gemütlich weiter über den Champs Elysee, bis wir in die Metro stiegen und zum Stadion fuhren. Da es nicht direkt im Zentrum liegt, dauerte die Fahrt dorthin auch relativ lange. An der Station angekommen, deckten wir uns erst einmal mit etwas zu Futtern ein. Wir hatten von ASF Essensgeld bekommen, da wir ja nicht in der Unikantine gewesen waren. Von dem Geld kaufte sich jeder von uns ein großes belegtes Baguette. Das beste, das ich je gegessen hatte.

Und dann ging es ins Stadion. Vor den Eingangstoren herrschte schon reger Andrang und die Polizei war auch schon mit einigen Wagen vor Ort, falls sich holländische und französische Fans in die Haare bekommen sollten. PSG war zwar haushoher Favorit, durch die Tabellenlage aber in einer etwas blöden Lage. In der Gruppenphase des UEFA-Cups können immer nur die ersten beiden Teams jeder Gruppe weiterkommen. PSG war zu dem Zeitpunkt Dritter der Gruppe, punktgleich mit dem Zweiten. In so einem Fall entscheidet immer das Torverhältnis der punktgleichen Teams. Der Tabellenzweite hatte wenige Tage vorher gewonnen und nun war PSG im Zugzwang. Ein Sieg musste her und zwar hoch genug, um ein besseres Torverhältnis zu erreichen, als der Tabellenzweite. 4:0 um genau zu sein. Bei einem 3:0 oder 4:1 wäre PSG ausgeschieden. Es würde also spannend werden.

Es klingelte nach nicht mal 20 Minuten zum ersten Mal. PSG wurde seiner Favoritenrolle gerecht, aber ob sie mit 4 Toren unterschied gewinnen würden? Kurz vor der Pause fiel das 2:0 und alle hofften, dass die zweite Halbzeit genauso laufen würde. Den Gästen aus Enschede gelang auch in der zweiten Halbzeit kein vernünftiger und gefährlicher Angriff und so fiel nach 60 Minuten das 3:0. Und als dann eine Viertelstunde vor Schluss das erlösende 4:0 fiel, war das ganze Stadion, das allerdings nicht mal zur Hälfte gefüllt war, total aus dem Häuschen. Bis auf einen kleinen Bereich. Das war die Gästetribüne. Das war inzwischen schon eine deutliche Niederlage, zudem PSG kurz vor dem 4:0 sogar noch einen Elfmeter vergeben hatte. Es hätte also schon 5:0 stehen können, aber darüber meckerte beim Abpfiff natürlich niemand mehr. PSG war in der nächsten Runde und alle hatten ein tolles Spiel gesehen. Wir waren auch restlos begeistert. Da ist man einmal bei einem Spiel live dabei und gleich fallen 4 Tore. So muss das sein. Zufrieden fuhren wir zurück ins Foyer. Die anderen waren teilweise schon im Bett. War ja auch spät. Es war aber auf jeden Fall das absolute Highlight der Seminartage gewesen. Die besten Bilder findet ihr in einem Album ganz oben auf der linken Bildseite.

Die verbleibenden zwei Tage gingen relativ schnell rum, auch wenn nichts besonderes mehr passierte. Viel laufen und diskutieren eben. Am 21. Dezember war das Seminar offiziell zu Ende. Ich flog aber erst einen Tag später nach Berlin. Als alle anderen abgereist waren, machte ich mich noch mal zum Eiffelturm auf und schaute mir einen kleinen Weihnachtsmarkt an. Meinen Koffer hatte ich im Foyer gelassen, da störte er keinen. Als es dämmerte, fuhr ich zurück und setzte mich in der vierten Etage im Aufenthaltsraum an meinen Laptop. Irgendwie musste ich ja die Zeit totschlagen, mein Flug würde erst um 6 Uhr am nächsten Morgen starten. Bis dahin war eben Internet angesagt. Die Vorfreude wuchs mit jeder Stunde, die ich dem Abflug näher kam und mit jeder Sekunde fieberte ich mehr dem Moment entgegen, in dem ich in Berlin aus dem Flugzeug steigen und wieder daheim sein würde. Zum ersten Mal seit fast 4 Monaten.

Samstag, 18. April 2009

Die Reise, Teil 1

Irgendwann und fast unbemerkt ist der langersehnte Tag dann schneller da, als man denkt. Waren es eben noch einige Wochen bis zur Abreise nach Paris, erinnerte mich jetzt Cathy, wie so oft daran, dass wir heute das letzte Mal im Jahr 2008 zusammenarbeiten würden. Mit der singenden Schulklasse endete für mich das Jahr 2008 an der Colline. Ja, ein bisschen vermissen würde ich die Colline schon, aber gegen nichts in der Welt würde ich jetzt Paris und Berlin eintauschen wollen. Ich komme nach Hause, nach über 3 Monaten. Ein komisches Gefühl. Aber bevor es losgehen konnte, musste ich noch einiges erledigen. Die Arbeit für Nadja hatte ich im Laufe des Montages erledigt. Viel zu tun war eh nicht und Sylvie gab mir die Freiheit, mich in den salle d’animation zu setzen und alles Nötige fertig zu machen. Zum Glück arbeitete Nadja Montags immer bis 19:30 Uhr, da war noch ausgiebig Zeit, auch nach Feierabend im salle zu bleiben, bis ich alles übersetzt und beantwortet hatte und ein halber Jurist war. Nadja war überglücklich und spürbar erleichtert, als ich ihr die Unterlagen gab. Jetzt bist du mein Engel, sagte sie grinsend. Tja, eine Hand wäscht die andere, antwortete ich zwinkernd. Sie ist echt ein toller Mensch. Und ihre Tochter ist richtig hübsch, ich hab das Foto auf Nadjas Handy gesehen.

Gegen 20 Uhr machte ich mich in die Stadt auf. Denn eine wichtige Sache war noch nicht vollendet. Mein erster Projektbericht. Der sollte eigentlich bis zum 14. Dezember an Nicola gesendet werden, aber wie so oft ist man in der Vorweihnachtszeit alles, außer Herr seiner Zeit. Der Text war schon fertig und mit mehr als 6.000 Wörter hatte ich mich mal wieder selber übertroffen. Aber das Wichtigste an so einem Bericht fehlte noch und das waren die Bilder. Der beste Bericht ist nur halb so gut ohne Bilder. Zum Glück hat mir ein Teil meiner Eltern da ja das passende Fähigkeit mitgegeben. Und der andere Teil hat für die 6.000 Wörter gesorgt, sozusagen. Vor McDonalds ging ich noch zu LeaderPrice, um für den morgigen Tag etwas Reiseproviant zu kaufen. Und als ich bei McDonalds ankam, hatte ich erste Zweifel, rechtzeitig fertig zu werden, wollte ich noch den letzten Bus bekommen. Gegen 22 Uhr war der Bericht fertig, der Bus aber längst weg. Ich schickte die Datei meinem Vater, damit er aus der Word-Datei ein PDF erstellen konnte. Das Programm dazu geht bei mir irgendwie nicht. Nie klappt was, wenn man es dringend benötigt...

Ich gab meinem Vater letzte Informationen, wie er es an Nicola schicken sollte. Ich wollte nach Hause. Schon die letzte Nacht hatte ich wenig geschlafen, da ich bis 3 Uhr in der Früh an der Übersetzung für Nadjas Tochter gesessen hatte und so wollte ich diese Nacht wenigstens etwas Schlaf nachholen. Ist aber quatsch, denn um 6 musste ich ja schon wieder auf den Beinen sein, um mich fertig zu machen und zum Flughafen zu fahren. Aber erst einmal stand mir ein Spaziergang in die Berge bevor, mit einer Einkaufstüte und der Laptoptasche bepackt, zudem es leicht angefangen hatte zu regnen. Ich verabschiedete mich von der obdachlosen Frau bei McDonalds, die mir ganz lieb ein fröhliches Fest gewünscht hatte. Es klang komisch, ihr das selbe zu wünschen. Sie tat mir leid. Sie schien alles andere als dumm zu sein, aber an irgendeinem Punkt ihres Lebens war ihre Existenz wohl gescheitert. Und trotzdem bemühte sie sich immer, einem ein warmes Lächeln zu geben. Das ist für mich wahre Größe. Von ihr könnten sich die meisten anderen Menschen mal eine Scheibe abschneiden.

Ich hatte unterschätzt, wie anstrengend das Laufen bergauf sein kann. Ich brauchte fast eine Stunde und als ich angekommen war, war ich ziemlich erschlagen und meine Schultern schmerzten. Taten sie auch noch zwei Tage danach. Ich richtete den größten Teil meiner Sachen, aß noch eine Schüssel Cornflakes und ging ins Bett. Da war es schon 1 Uhr. 5 Stunden Schlaf also. Uff. Na ja, bin ja jung. Am nächsten Morgen packte ich den Koffer fertig, was nur 10 Minuten dauerte, ging schnell duschen und kontrollierte, ob alles okay war und ob ich mein Zimmer so zurücklassen könnte. Jap, war alles okay. Ich machte mich mit meinem verkrüppelten Koffer also ein weiteres Mal auf die Reise. Die Fahrt zum Flughafen dauerte etwa eine Stunde. Er liegt zwar nur 7 km westlich der Stadt, aber erstens musste ich an Grimaldi aussteigen, das gewohnte Stück zu McDonalds laufen, um dort in den Bus 98 umzusteigen, der direkt zum Airport fährt. Und zweitens steckte dieser eine gute halbe Stunde in der morgendlichen Rushhour an der Promenade des Anglais fest. Um kurz vor 9 war ich da, der Bus hielt zum Glück direkt vom Terminal 2. Klein ist der Flughafen Nizzas nämlich nicht. Der Weg ins Terminal 1 hätte mich mit den ganzen Sachen sicher eine gute Viertelstunde gekostet. Aber wie gesagt, ich musste ja vom T 2 abfliegen, daher war alles cool.

Schnell fand ich den Check-In-Schalter, an dem nicht viel los war und gab mein Gepäck ab. Ich will ja nicht angeben, aber mit Flughäfen kenne ich mich inzwischen bestens aus, so oft wie ich unterwegs bin. Ein geiles Leben. Meinen Laptop hatte ich mitsamt Tasche im Koffer verstaut und nur die Tüte mit Mamas Geschenk als Handgepäck deklariert. Vorher erklärte ich der Dame am Check-In aber, dass sich darin eine Vase befände und diese so zerbrechlich wäre, dass ich sie nicht in den Koffer quetschen wollte. Sie sagte mir, dass sie meinen Koffer auf dem Band stehen lassen würde, falls es bei der Sicherheitskontrolle bedenken wegen des Gegenstands aus Glas geben würde. Dann solle ich zurück kommen und die Vase in den Koffer tun. Aber ich kam ohne Probleme durch die Kontrolle und so saß ich schon um kurz nach 9 vor meinem Schalter mit der Nummer A01, an dem auch schon der Easyjet-Flug nach Paris-Orly angezeigt war.

Ich war zwar relativ spät aus dem Haus gegangen und hatte mir Sorgen gemacht, nicht rechtzeitig zum Ende des Check-Ins um 9:40 Uhr am Flughafen zu sein, aber dass es dann doch so schnell gehen würde, hätte ich nicht gedacht. Und dann kam die Ansage, dass wegen schlechtem Wetter in Paris mein Flug etwa eine halbe Stunde Verspätung haben würde. Na ja, halb so wild, ich musste bis 14 Uhr im Foyer Le Pont sein, das sollte eigentlich trotz Verspätung reichen. Ich kaufte mir in der Nähe meines Schalters einen Kaffee, der nicht der leckerste war, einen dafür umso besseren Schoko-Croissant und eine Packung Kaugummis. Gegen den Druck im Flieger. Funktioniert wirklich, man braucht gar keine Medikamente gegen Reiseübelkeit kaufen, da es einfaches Kaugummi auch tut. Zumindest bei kürzeren Flügen. Auf dem Vorfeld rollte in dem Moment gerade die Delta Airlines Boeing 767 aus New York JFK vorbei und die war knappe 8 Stunden in der Luft gewesen. Ob ich auch das ohne Probleme überstehen würde? Kommt auf einen Versuch an, oder?

Aus der halben Stunde Verspätung wurde eine Stunde und auch hier in Nizza war das Wetter inzwischen ziemlich beschissen. Es stürmte und regnete stark. Dann landete unser Airbus A319 aus Paris-Charles de Gaule und wenige Minuten später stiegen wir ein. Ich war in Boarding-Gruppe B und musste daher am längsten auf den Einstieg warten. Zuerst kamen die SB’ler, diejenigen, die das sogenannte Speedy-Boarding mit dem Ticket gekauft hatten. Die dürfen dann vor allen anderen das Flugzeug betreten. Kostet aber was. Nicht viel, aber ich habe auch ohne SB bisher noch immer einen Fensterplatz bekommen. Dann kommen Familien mit Kindern und danach die Boarding-Gruppe A. Und dann ich. Die Maschine war fast voll, aber ich hab mir trotzdem den letzten freien Fensterplatz gesichert. Genau über der rechten Tragfläche, an einem der Notausgänge, der bei diesem Flugzeugtyp unter anderem über den Tragflächen liegt. Kennt man ja, die Ansagen.

In this Airbus A 319 there are two emergency exits in the front and two in the rear of the cabin as well as 4 overwing exits. Even if you are a frequent flyer we would like you to read carefully your safety cards in the pocket in front of you. The whole team of Easyjet wishes you a pleasent flight to Paris-Orly.

Ich glaube, ich kann das inzwischen auf drei Sprachen auswendig mitsprechen. Wie auch immer, die Notausgänge über den Tragflächen erfreuen sich aus irgendeinem Grund nicht der größten Beliebtheit, da man im Falle eines Notfalls eigenständig die kleine Tür öffnen müsste. Wenn sich die Leute so viel Verantwortung nicht zutrauen, ist es Simon, der Danke für den freien Fensterplatz sagt. Ich habe Vertrauen in die Luftfahrt in Europa und kenne die geringe Wahrscheinlichkeit, dass ich diese Tür jemals auch nur anfassen müsste. Wir wurden vom Gate geschoben, rollten zur Startbahn und bereits auf dem letzten Taxiway, den Rollwegen, die zu den Startbahnen und zu den Terminals führen, gab der Pilot Gas und ohne anzuhalten bog er auf die Startbahn ein, beschleunigte die Maschine auf knappe 280 km/h und schon nach 30 Sekunden erhoben wir uns in den grauen Himmel Nizzas. Wir starteten Richtung Osten, drehten daher wenige Sekunden nach dem Start nach Rechts ab, wie ich es ja schon oft von unten beobachtet hatte und verschwanden sofort in den Wolken, die sehr tief hingen. Nach einer 180°-Kurve flogen wir wenige Minuten gen Westen parallel zur Küste, bis wir kurz vor Toulon nach Norden drehten und Kurs auf Paris nahmen.

Das Wackeln hatte inzwischen nachgelassen, wir waren in ruhigere Luftschichten gekommen und daher begann jetzt der angenehme Teil des Fluges. Irgendwo über Lyon war ich dann leicht weggedöst und das letzte, was ich sah, waren diejenigen Berge des massive centrals, die hoch genug waren, um mit den Spitzen die Wolken zu überragen. Sie waren alle schneebedeckt. Aufgewacht bin ich, als wir bereits im Sinkflug waren. Man sah draußen nichts, nur graue Suppe. Da ich den Beginn des Sinkfluges verpennt hatte, wusste ich nicht, wie hoch wir noch waren. Wir verließen die Wolken nur eine Minute später, als wir nur noch 300 Meter hoch waren und schon setzten wir in Orly auf. Es war der ruhigste Anflug auf einen Flughafen, an den ich mich erinnere. Keine Turbulenz, gar nix. Komisch, dass die Maschine wegen des schlechten Wetters in Paris zu spät nach Nizza gestartet war. Lag wohl nur am Nebel. Die Sicht war wirklich schlecht, es war trüb und man sah nur die Umrisse der ganz großen Jumbo-Leitwerke, die aus dem Nebel herausragten, als wir zum Terminal rollten.

Und dann hieß es für mich das dritte Mal in nur 6 Monaten willkommen in Paris. Schon als die Tür aufging, kam mir ein Schwall kalter Luft entgegen. Es hatte Frost. Aber zum Glück hielt mein neuer Mantel schön warm, den ich mir zwei Wochen vorher gekauft hatte. Ich wanderte, mich müde reckend und streckend, zum Gepäckband. Mein Gott war das ein riesiger Flughafen. Und es war nur der zweitgrößte von Paris. Ich lief bestimmt 10 Minuten. In Tegel kannst du deinen Koffer schon fast sehen, wenn du das Flugzeug verlässt. Liegt nicht etwa daran, dass Tegel so klein ist. Er ist architektonisch gesehen einfach der genialste Flughafen der Welt. Die meisten Terminals sind länglich und weisen daher oft lange Laufwege auf, wenn die Maschine an einer weit entfernten Stelle andockt. Tegel ist in Form eines Oktogons, eines Achtecks, gebaut, das den geometrisch simplen Vorteil hat, dass der Weg von jedem beliebigen Ausgangspunkt zum Mittelpunkt gleichlang ist. Daher sind es vom Flugzeug zum Auto oder zum Taxi nie mehr als 50 Meter Luftlinie. Zu verdanken haben wir dieses geniale wie einfache Gebäude einem Herren Namens Mainhard von Gerkan. Googelt den Namen mal. Ein genialer Architekt. Neben dem Hauptterminal von Tegel hat er übrigens noch ein weiteres, weltweit einmaliges Gebäude entworfen. Den Berliner Hauptbahnhof. Und auch der weist, wenn man seine Größe mal betrachtet, erstaunlich kurze Laufwege auf, wenn man zum Beispiel von Gleis 1 auf der untersten Ebene zur S-Bahn auf Gleis 15/16 will. Wer schon mal im Frankfurter oder Hamburger Hauptbahnhof um- oder aussteigen musste, wird das bestätigen.

Tegel ist da anders. Zur Freude der Fluggäste, die nicht Meilen laufen müssen, wie an vielen anderen Großflughäfen der Welt. Oft tut man sich aber recht schwer, wenn es darum geht, aus Sachen zu lernen. Bestes Beispiel ist da, wie so oft, mein Lieblingsthema, der BBI. Berlins neuer Großflughafen. Das Hauptterminal soll 750 Meter lang werden. Die zwei vom Hauptpier abgehenden Seitenpiers, eines am Nord- und eines am Südende des Hauptpiers, sollen nochmals 300 Meter lang sein. Das ganze wird wie ein großes U mit Kanten aussehen. Und wehe, man kommt am Ende eines Nebenpiers an und muss mit Gepäck über 1.000 Meter laufen, bis man im Hauptterminal zur Bahn, zum Bus oder zum Auto kommt. Dann wird das Gejammer groß und man wünscht sich die kurzen Laufwege von Tegel zurück. Und da Berlin mit 60 MRD € verschuldet ist und sparen muss, ist noch nicht einmal sicher, wo und ob es am BBI Laufbänder geben wird. Halleluja Berlin. Dabei wäre das Konzept von TXL so einfach auf den BBI übertragbar. Einfach zwei Oktogone nebeneinander bauen, jedes etwas größer als das aus Tegel und man hätte ein geniales und leistungsfähig Terminalsystem.

Ach ja, Tegel wird 2012 geschlossen und alle westlich der Berliner Innenstadt wohnenden Menschen können sich auf deutlich längere Fahrzeiten zum dem dann einzigen Berliner Flughafen einstellen. Wenn man sie nun aber fragen würde, warum sie für die Schließung von Tegel und Tempelhof waren... Was kann man von Menschen für eine Antwort erwarten, die einen Horizont von einem Quadratmeter haben und größere, gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge nicht verstehen, weil sie sich eigentlich nicht dafür interessieren? Nichts, was den Menschen voran bringen würde. Aber schnell und billig nach Malle wollen sie alle. Vor diesem Hintergrund finde ich immer die Reaktionen der Leute lustig, denen ich sage, dass sie nach Schönefeld müssen, wenn sie mich abholen wollen. Warum fliegst du denn nicht nach Tegel, fragen sie dann oft. Tja, gewöhnt Euch schon mal dran.

Das ging mir alles durch den Kopf, als ich zum Gepäckband watschelte. Dort durfte ich noch mal über 10 Minuten warten. Das Gepäck musste ja den selben Weg wie ich zurücklegen. Hilft ja alles nix, darüber nachzudenken und zu meckern, sagte ich mir. Also Gedankenwechsel. Mit meinem Koffer machte ich mich auf die Suche nach den Bussen. Die sollen schneller als die Metro in die Innenstadt sein, hatte mir Nicola erklärt. Ich fragte eine Dame am Infoschalter und bald hatte ich einen Bus gefunden, der direkt zum Gare Montparnasse fährt. Von dort müsste ich nur noch eine Station mit der Metro fahren und wäre im Foyer. Ich musste allerdings schlucken, als ich erfuhr, dass der Bus 15 € kostete. War mir dann aber doch egal und so stieg ich ein und zahlte brav. Das konnte aber nicht der Bus sein, den Nicola gemeint hatte. Auf meinem stand Air France. Sie hatte aber sicher die Busse der Pariser Verkehrsbetriebe gemeint. Da mein Bus aber auch zum Gare Montparnasse fahren sollte, dachte ich nicht länger drüber nach. Ich war wieder in Paris und das war Grund genug, um gute Laune zu haben.

Dienstag, 14. April 2009

Dezember in Nizza, die Woche 14

Aus dem zu Beginn etwas karg und schüchtern dekoriertem Nizza ist mittlerweile die am schönsten geschmückte Stadt geworden, die ich je gesehen habe. Jede Straße, egal ob groß oder klein, ist prachtvoll hergerichtet und überall blinkt und glitzert es. Man könnte aber auch sagen, dass sie nur etwas Besonderes für mich ist, weil mein ganzes Leben zur Zeit ein einziger großer Ausflug ins Unbekannte ist und so gewisse Dinge, die man vorher nicht bewusst wahrgenommen oder als Gewohnheit angesehen hatte, jetzt in einem ganz neuen Licht erscheinen. Das weihnachtliche Berlin ist vielleicht nicht minder schön, als das weihnachtliche Nizza, aber nach 17 Jahren hat es den gewissen Kick verloren, den Nizza zur Zeit so besonders macht. Dafür hat Berlin Schnee. Na ja, ab und zu vielleicht. Auf jeden Fall öfter als in Nizza. Eines Abends, nach der Arbeit, habe ich mich mit Foto und Baguette zur Marschverpflegung bewaffnet auf die Socken gemacht, um etwas von der Pracht festzuhalten. Die schönsten Bilder habe ich in einem Album gesammelt, das ihr links auf der Seite anklicken könnt. Vor einem Jahr hatte ich die Bewerbung an ASF abgeschickt. Im Dezember 2008 finde ich mich also in einer der schönsten Städte Europas wieder und wer sich die Bilder genauer ansieht, wird merken, dass es nichts mit einem Berliner Dezember gemeinsam hat. Für mich noch viel weniger.

Es gibt aber auch so Tage, an denen alles schief läuft und man auf Weihnachten und Dezember getrost pfeifen könnte. Solche Tage im Dezember, an denen es mal wieder schüttet wie aus Kübeln und man sich cleverer Weise entschieden hat, einkaufen zu gehen. Mit einer Papiertüte... Es ist ja nicht gerade so, als ob ich keine Plastiktüten bei mir zu Hause hätte. Aber wenn das Leben in seinen geregelten Bahnen läuft, muss man eben selber nach helfen, damit die Spannung nicht flöten geht. Da machen sich Papiertüten an Regentagen ganz ausgezeichnet. Und wenn man dann noch von der etwas verpeilteren Sorte ist, hat man genügend Stoff, um den halben Tag nur zu fluchen. Nach meinem Einkauf mit besagter Papiertüte bin ich zwar ohne Probleme vom Supermarkt bis zum Bus gekommen. Im Bus habe ich die Tüte dann aber auf den nassen Boden gestellt und somit war ihr Schicksal, lange bevor ich es merkte, besiegelt. Denn genau in dem Moment, als ich aussteigen wollte und die Tüte anhob, machte es laut ratsch und Milch, Brot und Käse kullerten durch den ganzen Bus. Alles in der Laptoptasche verstauen ging nicht, war zu viel. Eine andere Tüte hatte ich nicht, genau wie die anderen Fahrgäste, die ich fragte. Ich fuhr also fluchend bis zur Endstation mit, um Zeit zu gewinnen, den ganzen Krempel doch irgendwie in Jackentaschen und zwischen Laptop und Headset unterzukriegen. Irgendwie bekam ich es auch hin. Milch zwischen Arme geklemmt und der Rest ordentlich gequetscht.

Bis zur Endstation waren es nur 5 Minuten und eine Pause machte der Fahrer auch nicht. So hatte die Aktion zum Glück nicht meinen ganzen Abend in Anspruch genommen. Als ich dann zu Hause war, habe ich die Sachen einfach in die Küche gestellt und bin dann ohne Umwege in die Dusche gegangen. Der Weg vom Bus bis zu meinem Haus ist zwar nicht weit, aber vollbepackt mit tollen Sachen, die das Laufen im Regen schwerer machen... Auf gut Deutsch: Ich war klatschnass. Etwas gestresst von doofen Tüten und dem rauen Dezemberwetter blieb ich geschätzte 5 Stunden unter der Dusche, das Wasser so heißt aufgedreht, dass der kalte Regen schnell vergessen war. Müde war ich nach der Dusche aber immer noch, also ging ich gleich ins Bett. Ich habe eh das Gefühl, dass die Arbeit hier einen auf eine ganze besondere Weise erschöpft macht. Nicht körperlich, eher geistig. Die psychische Problematik der Alzheimer-Patienten, das ständige Wiederholen von Fragen und das andauernde Vergessen ihrer eigenen Identitäten macht einen ganz madig. Das immer präsent Sein und das Bewusstsein, immer aufmerksam sein zu müssen und niemanden aus den Augen zu lassen, macht mich ständig angespannt. Die ruhigen Minuten, in denen Cathy und ich bei einer Tasse Kaffee mal abschalten können, sind daher immer ganz besonders „chillig“.

Auch was unsere Animationen angeht, hat sich etwas getan, was das Arbeiten zumindest Freitags recht erträglich macht. Wir haben das so genannte atelier trikot ins Leben gerufen. Trikoter bedeutet stricken. Finden die älteren Damen natürlich toll. Viele haben ihr Leben lang gestrickt, sei es für Ehemann oder Kinder. Damit diese Fähigkeit nicht verloren geht, sitzt die Gruppe jetzt ein Mal in der Woche zusammen und bei Smalltalk wird an einem Schal, einem Pulli oder bunten Socken gearbeitet. Da es viel mehr um Zeitvertreib, als um Perfektion geht, haben Cathy und ich nicht mehr zu tun, als uns gemütlich mit Stricknadeln und Wolle dazu zu setzen und für Gesprächsthemen zu sorgen. Gehen diese aus, kann man beobachten, wie selbst die aufgedrehtesten Menschen stundenlang dasitzen können, ohne ein Wort zu sagen. Ganz auf ihre Strickarbeit fixiert. Ich dagegen musste aber erst einmal lernen, wie man mit Nadel und Wolle umzugehen hat. Hatte ich vorher noch nie gemacht. Nur staunend meiner Tante Gila zugesehen, wie sie es fertig bringt, gleichzeitig zu stricken, ein Buch zu lesen und Nachrichten zu schauen. Und das in Perfektion. Die grobe Materie an sich ist ja gar nicht so kompliziert. Das Schwere ist nur, Reihe für Reihe regelmäßig und gleichbleibend ordentlich hinzubekommen. Wenn das einigermaßen klappt, geht es an die Geschwindigkeit. Brauch ich für eine fehlerfreie Reihe 5 Minuten, schafft meine Tante in der gleichen Zeit wahrscheinlich 10 Linien, allesamt gleichmäßiger und schicker. Aber die Technik hab ich schon drauf, an der Feinarbeit wird gearbeitet. Mehr als ein löchriger Topflappen wird mein erstes Werk aber wohl nicht werden.

Neben meinen neu erlernten Strickfähigkeiten war das Highlight der Woche die Schulklasse einer jüdischen Schule, die am Montag die Colline besuchte, um für die Bewohner zu singen. In seiner typischen Showmaker-Manier war unser Direktor dauernd damit beschäftigt, im Voraus alles zu organisieren und zu planen. In großem Stil. Sein Ruf ist ihm heilig und daher ist er ein ziemlicher Wichtigtuer. Am Ende müssen wir uns - Cathy und ich - dann immer abzappeln, damit im engen Zeitrahmen zwischen den Mahlzeiten auch wirklich jeder Bewohner in die dafür viel zu kleine Empfangshalle des Batiment Nord gezwängt wird, um nachher nicht sagen zu können, der Direktor würde sich nicht um Beschäftigung und Unterhaltung sorgen. Am Ende war die Schulklasse eine Stunde lang da und Monsieur Perez hatte mal wieder viel Luft um nichts gemacht. Die Bewohner waren aber zufrieden mit dem kleinen Konzert. Viel braucht es dazu eh nicht. Kleine Sachen haben immer mehr Charme als groß aufgepumpte Shows. Genau deswegen passt unser Direktor eigentlich gar nicht in diese Einrichtung. Manager von Dieter Bohlen wär doch genau sein Ding, aber Direktor eines Altersheimes? Okay, eines reichen und bekannten Altersheimes mit einem gewissen Ruf, aber die Bewohner brauchen diesen abgehobenen Quatsch sicher nicht. Soll er doch lieber mehr Personal einstellen, damit bei Veranstaltungen die vorhandenen Angestellten, wie ich, nicht restlos überfordert sind, wenn aus 10 Richtungen jemand ein Glas Wasser verlangt und dann noch meckert, dass es zwei Minuten länger gedauert, bis er bedient wird.

Von einem aber wünscht sich jeder, dass er bald wieder nach einem Getränk fragen kann. Und das ist Monsieur L. Sein Zustand hat sich erstaunlich verbessert und mit ein wenig Hilfe kann er auf einmal wieder wenige Meter laufen. Als mir das am Montag gesagt wurde, hatte ich das Gefühl, in einer verkehrten Welt zu sein. Vor wenigen Tagen hatte es Julie völlig aus der Bahn geworfen, weil Monsieur L zum ersten Mal so etwas wie ein Bewusstsein für seine Umwelt gezeigt hatte, als er unter Schmerzen und sicher auch Todesangst weinend nach seinen Kindern verlangt hatte. Für uns war das ein Zeichen seines Endes und gerade deswegen so schmerzlich. Jetzt auf einmal ist er auf dem besten Weg, sozusagen wieder der Alte zu werden? Ist doch nicht normal. Völlig verrückt. Diese Krankheit macht mit den Menschen was sie will. Sie spielt mit ihnen und das Schlimme ist, dass man absolut nichts dagegen tun kann. Außer sich freuen, wenn Menschen wie Monsieur L dem Sensenmann noch mal ein Schnippchen geschlagen haben. Und danach sieht es zur Zeit aus, wobei es auch sofort wieder in die andere Richtung gehen kann. Eine Art Wettervorhersage, auf die man sich meistens verlassen kann, gibt es für Alzheimer leider nicht.

Monsieur C’s Zustand dagegen hat sich nicht gebessert. Er ist fast nur am Röcheln und Husten und meistens suche ich so schnell wie möglich das Weite, weil ich es kaum aushalte, neben todkranken Menschen zu stehen. Da sind sie mir tot lieber, so verrückt das klingt. Aber vor Leichen habe ich deutlich weniger Angst, als vor Menschen, die langsam und leidvoll auf ihr Ende warten. Ich kann es nicht anders ausdrücken. Ich habe ja schon viel gelernt in den Monaten, in denen ich hier bin. Ich reagiere deutlich cooler als am Anfang, wenn ein Bewohner gestorben ist und sowieso gehe ich inzwischen mit der ganzen Thematik Tod völlig anders um. Aber neben dem röchelnden Monsieur C halte ich es nicht lange aus. Dabei weiß ich ja aber, dass er sonst kaum einen zum reden hat. Sein Bruder hat wohl aufgegeben, ihm zuzuhören beziehungsweise hat mit seinem eigenen Problemen wohl genug zu tun. Und Besuch kam bisher noch nie. Tochter lebt bei Stuttgart und Frau ist sicher schon länger tot. Deswegen probiere ich, mich so gut wie möglich, am Riemen zu reißen und mir jeden Tag etwas Zeit zu nehmen. Denn wenn es eines gibt, was ich auf keinen Fall will, ist es einsam zu sterben und dementsprechend versuche ich mich auch gegenüber den Bewohnern zu verhalten. Leicht ist es nicht.

Vergleichsweise einfach ist da die Aufgabe, um die mich Nadja die Krankenschwester gebeten hat. Ihre Tochter studiert Jura und braucht bei einigen Textaufgaben Hilfe. Jura wird in Nizza an der Uni ausschließlich auf Englisch unterrichtet und da die Franzosen darin nicht die Besten sind, hat Nadja mich gebeten, etwas zu helfen. Zudem ihre Tochter wegen einer Operation ins Krankenhaus muss und daher wenig Zeit hat, für die baldige Prüfung zu lernen. Ich muss zugeben, dass ich es nicht ganz verstanden habe, warum ich helfen muss, aber da mein Englisch eh total abgenommen hat, seit ich in Frankreich bin, habe ich nicht weiter nachgebohrt. Zudem das Thema ganz interessant ist. Die amerikanische Verfassung, wie sie entstand, und wie sie sich in den Anfängen nach dem Unabhängigkeitskrieg veränderte. Alles wie gesagt auf Englisch. Ich werde hier wie ein Sprachtalent behandelt, da ich der Einzige bin, der drei Sprachen spricht. Ich hielt das immer für eine Selbstverständlichkeit, aber ich merke jetzt, dass es das ganz und gar nicht ist. Vielmehr spiegelt es eher meinen Anspruch an mich selber wieder. Und den erfülle ich hier meiner Meinung nach mehr als genug. Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal von mir sagen werde, aber ich bin stolz auf mich. Ich bin in ein fremdes Land gegangen, habe mich in eine andere Sprache eingelebt und bin bereits nach einem Drittel der Zeit auf dem besten Wege, die bisher größte Herausforderung meines Lebens mit einer Zielstrebigkeit zu meistern, die ich in den Jahren in der Schule immer vermisst habe. Schon deswegen ist dieses Jahr in Nizza das Beste, was mir passieren konnte. Weil es meinem Selbstbewusstsein einen unglaublichen Schub gegeben hat.

Und ganz nebenbei ist dann auch schon der 15. Dezember angebrochen und damit mein letzter Arbeitstag in der Colline im Jahr 2008. Aber davon mehr im nächsten Beitrag. Ich hoffe, ihr haltet mir alle schön die Stange ;-)

Montag, 9. März 2009

Wochen 11 bis 13

Die Vorweihnachtszeit beginnt - Urlaubsplanungen

Es geht wieder los. Die erste Weihnachtsdekoration schmückt die Straßen. Ich hatte ja schon gedacht, dass man hier im Süden fast ganz darauf verzichtet, da das Wetter eh nie wirklich weihnachtlich ist, aber ich habe mich zum Glück getäuscht. Das ist doch gerade das Schöne an Weihnachten. Dass die ganze Stadt festlich geschmückt ist und wenn es dunkel ist, tausende Lichter die Straßen erhellen. Wäre doch schade, darauf ein Jahr verzichten zu müssen. Muss ich ja aber nicht. Darauf, dass ich wahrscheinlich keine Schneeflocke zu Gesicht bekommen werde, habe ich mich aber bereits eingestellt. In der Colline geht jetzt die Koordination der Weihnachtszeit los. Alle sind eifrig am planen, damit sie ihren Urlaub so früh wie möglich anmelden können, um Zeit für die Familie zu haben. Die kommt bei vielen meiner Kollegen nicht aus der Gegend. Cathy zum Beispiel kommt aus der Basse Normandie. Ihr Bruder und ihr Vater wohnen dort. Ihre Mutter lebt mit ihrem neuen Lebensgefährten allerdings etwas weiter weg. Auf Mauritius. Vorher Madagaskar. Eine weit Entflohene also. Durch die Entfernung kann Cathy ihre Mutter nicht sehr oft sehen. Das letzte Mal vor zwei Jahren. Es ist eben sehr teuer, dorthin zu fliegen und nicht jeder ist scharf darauf, 14 Stunden lang in einem Touristen-Jumbo der Corsair eingepfercht zu sein. So lange dauert ungefähr der Flug von Nizza über Paris nach Mauritius.

Ich hatte meinen Urlaub ja bereits früh geplant und angemeldet. Zum Glück. So ein bisschen bekommt man das Gefühl, dass hier das Motto „Wer zu spät bekommt, den bestraft das Leben“ herrscht. Wer seinen Urlaub zu spät anmeldet, bekommt keinen. Denn logischer Weise muss die medizinische Verpflegung und Betreuung der Bewohner von Irgendjemandem aufrechterhalten werden. Auch über Weihnachten und Neujahr. Sind dann eben die, die keine Kinder, beziehungsweise Familie haben. Oder halt die Pechvögel, die sich zu lange Zeit gelassen haben. Ich fliege am 16. Dezember nach Paris und dann nach Berlin. Alles andere ist mir jetzt egal. Die könnten mir hier nen Stundenlohn von 30 € anbieten, damit ich bleibe. Ich würde es ablehnen. Weihnachten in Berlin ist unbezahlbar. Ich freue mich jeden Tag mehr auf den 22. Dezember, wenn ich in Orly morgens um 6 in die Frühmaschine nach Schönefeld steigen werde. Inzwischen habe ich auch schon ein Abholkommitee organisiert. Na ja, teilweise zumindest. Ich kann schließlich nicht verlangen, um 8 in der Früh in den Osten zu fahren. Da muss man mindestens ne Stunde vorher aus dem Haus. Martin und Marcel werden da sein, haben sie gesagt. Tina und Sanny auch. Mal sehen, wer es dann tatsächlich schafft, sich so früh aus dem Bett zu quälen. Zumal ja Ferien sind zu der Zeit. Nur alleine dastehen will ich nicht. Dazu war ich zu lange weg und irgendjemand wird schon treu genug sein, den alten Simon in Empfang zu nehmen. Ich würde es schließlich auch machen, wenn einer meiner besten Freunde drei Monate weg gewesen wäre. Auf mich kann man sich da verlassen. Mir sind meine Freunde nämlich mehr wert, als alles andere. Denn was wäre man ohne sie? Einsam und verbittert.

Während die anderen also ihren Weihnachtsurlaub beantragten, klärte ich mit Madame Vangioni, der sogenannten surveillante generale, bereits meinen nächsten Urlaub ab. Im März will ich zu meinem Geburtstag nach Hause fliegen. Denn alleine zu feiern, kann ich mir noch weniger vorstellen, als Weihnachten in Nizza zu bleiben. Ich klärte das so früh ab, um noch günstige Flüge zu kriegen. Die werde ich in den nächsten Wochen buchen. Abgesegnet hat Madame Vangioni mir meinen Urlaub nämlich ohne zu murren. Wenn das so weiter geht, wird 2009 ein noch reisefreudigeres Jahr als 2008. Neben den privaten Reisen muss ich im Mai ja noch zu einem Seminar nach Paris und Ende August zum Abschlussseminar. Wo das stattfinden wird, weiß ich noch gar nicht. Wahrscheinlich auch in Paris. Mal sehen, was dazwischen noch so alles an Reisen zusammenkommt. Irgendwie muss ich es ja nutzen, in 14 Ländern ASF-Kollegen zu haben, bei denen man teilweise kostenlos übernachten kann. Ich würde ja am liebsten nach New York. Aber das ist leider am unwahrscheinlichsten. Eher werde ich mich etwas in Frankreich rumtreiben, Jane und Christian in der Normandie besuchen, oder zu Julian nach Marseille fahren. Liegt ja am nächsten und nach Marseille wollte ich eh schon immer mal.


Was geht bei den alten Leuten ab

Bevor ich aber meine ganze Reise –und Entdeckungslust austoben kann, geht die Arbeit natürlich weiter, wie gehabt. Zu vielen Bewohnern habe ich inzwischen ein freundschaftliches Verhältnis aufgebaut. Das sieht dann immer so aus, als würde sich der junge Hüpfer überall ein bisschen Lebenserfahrung abschneiden und sich dann daraus den großen Klumpen formen, den er nach Beendigung des Jahres den Freunden als Trophäe eines einzigartigen Jahres präsentieren kann. Aber die Bewohner teilen gerne und erzählen viel, wenn man sich die Zeit nimmt, ihnen zuzuhören. Aber auch, wenn sie nichts zu erzählen haben, gibt es ab und zu etwas zum Staunen. Im Centre zum Beispiel lebt eines von zwei Ehepaaren der Colline. Monsieur und Madame H sind zwar beide schon ziemlich senil und vergessen ohne Probleme die Namen ihrer Kinder. Aber wehe, die beiden sind zu lange getrennt. Dann wird gedrängelt, geschmollt und geschimpft. Und ist der andere dann da, sieht man keine alten Leute, die hier wahrscheinlich ihre letzte Stätte gefunden haben, sondern zwei frisch verliebte Teenager. Madame H kann kaum noch eigenständig laufen und sitzt daher im Rollstuhl. Dann weicht er bei den Animationen nie von ihrer Seite. Er hält auch immer ihre Hand und ab und zu flüstert er ihr zu, dass er sie über alles liebt. Sie versteht oft Zusammenhänge nicht mehr, aber wenn ihr Mann das sagt, strahlt sie über das ganze Gesicht und muss gar nicht antworten, weil ihre Augen genug sagen. Ich grinse dann immer und muss mir Mühe geben, nicht zu vergessen, dass die beiden bestimmt schon fast 60 Jahre verheiratet sind. Wie lange genau können die beiden ironischer Weise nicht mehr sagen. Ich frage mich dann immer, ob sie das ist, die perfekte Liebe.

Im Alzheimer-Teil haben wir bereits seit einigen Wochen einen neuen Bewohner. Monsieur H. Ein an sich sehr freundlicher Herr, der bereits 90 Jahre auf dem Buckel hat. Aber nach einer Woche wurde er zunehmend komplizierter. Durch seine Krankheit ist es fast unmöglich, ihm seine Situation begreiflich zu machen. Warum er hier ist, wo er sich hier befindet und wo seine Frau ist, kann man ihm zwar erklären, aber er wird es augenblicklich wieder vergessen haben und weiterhin sauer reagieren, wenn wir ihm jeden Abend aufs Neue erklären müssen, dass er nicht zu sich nach Hause kann, da er jetzt hier wohnt. Er sucht dann weiter alle Zimmer der anderen Bewohner nach seiner Frau ab. Wir hoffen nur, dass er sich irgendwann so benehmen wird, wie die anderen. Die sind zwar genau so krank, haben sich aber inzwischen so an ihre Situation gewöhnt, dass sie sie akzeptieren und genau wissen, warum sie hier sind. Dazu braucht es aber etwas Geduld, denn nicht bei jedem Bewohner geht das auf Anhieb, wenn er neu bei uns ist. Und es braucht Ruhe und Verständnis von unserer Seite. So können wir die Bewohner am besten unterstützen. Marie ist aber leider alles andere als geduldig und verständnisvoll. Die Krankenpflegerin ist generell eher dynamisch und aufbrausend. Im Grunde genommen auch bevormundend.

Und diese Kombination lies die Situation mit Monsieur H. eines Abends eskalieren. Ich wollte gerade Feierabend machen und meine Sachen aus dem Schwesternzimmer holen, als Monsieur H. wieder einmal fragte, wo der Ausgang sei. Er wolle nach Hause. Marie, sowieso genervt von Allem und Jedem, machte ihm mehr oder weniger hart klar, dass er hier bleiben müsse. Das rief bei ihm natürlich Unverständnis hervor und die beiden steigerten sich so in die Angelegenheit hinein, bis er sich am Türrahmen des Schwesternzimmers festklammerte, und uns nicht hinaus lassen wollte. Marie probierte dann, in einer unachtsamen Sekunde unter seinen Armen durchzuhuschen, aber er packte ihre Hand und lies sie nicht mehr los. So, wie ein angeschlagenes Tier, wehrte er sich nun mit seiner ganzen Kraft gegen seine Inhaftierung, wie er es nannte. Und trotz seiner 90 Jahre hat er noch gewaltig Kraft in den Armen. Er drückte Maries Hand so fest zusammen, bis sie vor Schmerz schrie. Ich stand mehr oder weniger hilflos dabei. Keine Ahnung, was ich in so einer Situation machen sollte. Cathy, auf der anderen Seite der Tür, probierte zwar, ihm zu erklären, dass er auf Grund seiner Krankheit nicht mehr bei sich zu Hause wohnen könne, aber genau das ist eines der vielen Probleme, die die Krankheit Alzheimer so tückisch macht. Die betroffenen Personen sehen die Lage komplett anders und fühlen sich hilflos und mit Gewalt festgehalten.

Ich stand nun also da und überlegte, was ich tun könnte, da sich die Situation immer verschlimmerte. Mit meinen 20 Jahren wäre es kein Problem, ihn mit bloßer Brutalität von Marie loszureißen. Damit würde ich allerdings leicht Gefahr laufen, ihn zu verletzen. Wollte ich aber nicht. In der Zwischenzeit waren noch andere Krankenschwestern gekommen. Die hatten aber alle nicht genug Kraft, Monsieur H. von Marie zu trennen. Und so griff ich energisch seine Hände und drückte mich zwischen die beiden. Er war wirklich noch verdammt rüstig, aber ich war schneller und stärker. Ich drückte ihn aus der Tür und schob ihn auf den Flur. Ich ging mit ihm in den Aufenthaltsraum, wo die anderen Bewohner seelenruhig saßen und Zeitung lasen. Wir setzten uns hin und ich beruhigte ihn etwas. Cathy löste mich dann ab, denn ich wollte nach Hause. Hoffentlich bessert sich sein Zustand so schnell wie möglich, sonst haben wir jeden Abend den selben Mist. Das sind die Momente, die den Job erst richtig hart machen. Auf das ständige Wiederholen von Fragen kann man sich einstellen, aber es ist zermürbend, wenn man einen aggressiven Bewohner vor sich hat und weiß, dass er im Grunde genommen überhaupt nichts dafür kann. Ich habe eine scheiß Angst vor dieser Krankheit. Die wünscht man nicht mal seinem größten Feind. Sich selber am allerwenigsten.

Im Batiment Nord gibt es Probleme dieser Art nicht. Dort leiden die Bewohner eher unter physischen Gebrechen. Wenn der Körper nicht mehr so will, wie er soll. Einer von denen, mit denen ich inzwischen einen etwas regeren Kontakt pflege, Ist Monsieur C. Seine rechte Körperhälfte ist zunehmend gelähmt, jede Woche ein bisschen mehr. Warum weiß ich nicht. Zudem hat er immer stärkere Atemprobleme, sodass er das Bett immer seltener verlässt. Er ist einer der wenigen Bewohner, der Deutsch spricht. Er war im Krieg in Deutschland inhaftiert. Als alles vorbei war, hat er sich eine deutsche Frau angelacht und ein Kind gezeugt. Seine Tochter ist in Deutschland geboren und lebt bis heute in der Nähe von Stuttgart. Französisch spricht sie nur sehr wenig und der Kontakt zu ihrem Vater ist nicht der beste. Das weiß ich alles von seinem Bruder, mit dem Monsieur C. sein Zimmer teilt. Der spricht kein Wort Deutsch, redet aber dafür umso mehr auf Französisch mit mir. Beide freuen sich immer sehr, wenn ich mir etwas Zeit für sie nehme. Wenn er mich sieht, spricht mich Monsieur C. auch nie auf Französisch, sondern grundsätzlich nur auf Deutsch an. Er hat so viel verlernt, sagt er, dass er sich freut, es mit jemanden wieder etwas auffrischen zu können. Na ja, eigentlich ist das nicht Sinn der Sache. Ich will Französisch lernen, aber etwas Heimat kann ab und zu ja nicht schaden.


Ausflüge

Die Donners- tagsausflüge führten uns in diesen Wochen nach Biot, Villeneuve und Antibes. Alles westlich von Nizza gelegen. Mit Biot waren wir zum ersten Mal in einem kleinen Dorf, das nicht an der Küste, sondern etwas im Landesinneren liegt. In der Region und bei Insidern auf der ganzen Welt ist es für eine ganz bestimmte Sache bekannt. Für seine Glasbläsereien. Über 30 davon findet man dort noch heute und alle stellen sie nach alter Tradition edelste Gegenstände aus Glas her. In eine davon fuhren wir. Eintritt kostet es keinen und für unsere Bewohner war es sehr interessant, den Leuten beim Glasblasen zuzusehen. Ich finde es auch immer wieder faszinierend, wie aus einem klumpigen Etwas eine verzierte Vase wird. Das erste Mal war ich im Krongut Bornstedt bei Potsdam in einer Glasbläserei und ich glaube, ich habe über eine Stunde lang zugeschaut. In Biot schauten wir nicht ganz so lange zu, dazu fehlt den Bewohnern die Geduld.

Außerdem war da noch der Verkaufsraum, in dem man die Sachen gleich nach der Herstellung kaufen kann, wenn man das passende Kleingeld hat. Guy hat es irgendwie hinbekommen, dass eine der Verkäuferinnen mir plötzlich einen Schein in die Hand drückte, mit dem ich einen nicht unerheblichen Rabatt auf jeden käuflichen Gegenstand bekommen sollte. Eigentlich wollte ich nichts kaufen, aber dann fiel mir ein, dass ja bald Weihnachten war und ich noch kein Geschenk für meine Mutter hatte. Sie steht auf Blumen und so musste ich nicht lange suchen, bis ich eine wunderschöne Vase gefunden hatte. Die war erst durch den Rabatt bezahlbar geworden. Ich ließ sie mir sehr gut einpacken, da ich erklärte, dass sie eine Reise von Nizza über Paris nach Berlin im Flugzeug heil überstehen sollte. Aber die kennen ihr Handwerk gut und wissen, dass Glas leicht zerbrechlich ist. Na schau mal an. Guy kaufte auch etwas für seine Frau und zufrieden kehrten wir in die hauseigene Kneipe ein, wo ich meine heiße Schokolade bestellte.

Villeneuve, in das es eine Woche später ging, liegt zwischen Nizza und Cagnes direkt hinter dem Flughafen. Ich hatte ja schon mal beschrieben, dass die Ortschaften hier so ausfransen, dass man kaum noch weiß, wann ein Ort endet und wo der nächste beginnt. Genau so verhält es sich bei Villeneuve und Cagnes. Für mich als Entdecker, ein Ort mit zwei Namen. Villeneuve hat eine niedliche Strandpromenade. Im Gegensatz zu Cagnes liegt die aber nicht direkt an einer Straße und so sind die Restaurants und Cafés dort etwas ruhiger. In eines davon gingen wir.

Große Lust auf einen Spaziergang hatte keiner der Bewohner, und es war zugegebener Maßen auch arschkalt. Während sich die anderen unterhielten, beobachtete ich die Flugzeuge, die bei Westwind, nicht weit von der Strandpromenade, landeten. Zum "Spotten" findet man hier sicher einige gute Plätze. Muss ich mal an einem Wochenende mit dem Rad hin, wenn der Wind aus der richtigen Richtung weht. Bevor wir gingen, machte ich noch einige Bilder. Wenn man genau hinsieht, erkennt man ein Flugzeug, nicht größer als ein kleiner Punkt. Aber der Himmel sieht toll aus. Möwen gibt’s da auch, aber die sind eher gelangweilt von dem ganzen Trubel am Himmel.

An dem Tag, an dem wir nach Antibes fuhren, hat es nur geregnet. Aussteigen war daher nicht drin. Mehr oder weniger improvisiert war daher Guys Idee, mit dem Auto durch den Hafen von Antibes zu fahren, in dem im Winter die vielen Luxuskreuzer der Reichen liegen. Dieser Teil wäre im Sommer normaler Weise für „normale“ Menschen geschlossen, aber da im Winter eh kaum Touristen da waren, sparte man sich den Aufwand. Wer wäre schon so blöd, eine gut bewachte Jacht zu klauen, für die man eh eine ganze Crew bräuchte, um abhauen zu können... So kamen wir so nah an die Schiffe, wie sonst kaum einer. Und auch hier war wieder eines größer als das andere. Lagen in Nizza maximal 2 oder 3 dieser Größe im Hafen, waren es hier über 20, Seite an Seite, alle doppelt so breit wie unser Auto lang war. Und auf jedem Schiff sah man Leute. Das wären aber nicht die Besitzer, sondern Angestellte, die es über den Winter in Schuss hielten. Da wurde mir klar, dass man nicht nur die Kohle für das Schiff braucht, sondern auch für die Leute, die darauf arbeiten. Egal, ob der Besitzer an Bord ist, oder nicht. Guy erzählte, dass es teilweise 20 Leute seien. Köche, Putzfrauen etc.

Ich kam aus dem Staunen nicht heraus. Ich habe ja schon einige Male Ferien auf einem Hausboot gemacht, auf dem 7 Leute fahren und schlafen können. Dann ist es aber relativ eng und von Luxus kann man nicht gerade reden. Auf den Teilen hier könnten locker 7 Familien unterkommen, für jede eine Küche und zwei Badezimmer, versteht sich. Bei so viel Reichtum lief mir langsam aber sicher die Galle über. Auf der einen Seite verhungern auf den Straßen, vor den Augen der Passanten, die Bettler, weil sie nichts zu essen haben, und wenige Kilometer entfernt, liegen Schiffe in den Häfen, die locker Platz für jeden einzelnen von ihnen hätten. Nach der Zeit, die ich jetzt schon hier bin, sehe ich einige Dinge inzwischen durchaus kritisch. Eine Armut, die dermaßen offensichtlich und krass, wie die in Frankreich ist, gibt es in Deutschland meiner Meinung nach nicht. Und ich lehne mich, glaube ich, nicht zu weit aus dem Fenster, wenn ich sage, dass die sozialen Unterschiede, beziehungsweise Begebenheiten, an keinem anderem Ort in Frankreich so krass auseinander klaffen, wie an der Côte d’Azur. Nirgendwo sonst liegen arm und reich dermaßen nahe beieinander.

An keinem Ort in Deutschland habe ich jemals so viele Obdachlose auf den Bürgersteigen liegen sehen, die leeren Wodkaflaschen direkt daneben oder mitten auf dem Weg liegend, so dass die anderen Leute über sie hinweg steigen müssen. Ich frage mich jedes Mal, wie diese Menschen den Winter überstehen können. Bei einem Obdachlosen in Deutschland habe ich mich das noch nie gefragt. Zufall? Ich weiß nicht, wie ich es besser sagen kann, aber wenn ich einen Obdachlosen in Berlin sehe, denke ich an Suppenküche und Obdachlosenheim. In Nizza denke ich an Tod...

An keinem Ort in Berlin sind die Obdachlosen so Teil der Landschaft, wie es hier der Fall ist. Es erschreckt mich immer wieder, wenn ich jemanden, nur in einen Schlafsack gehüllt, vor einer Haustür liegen sehe und er sich nicht bewegt. Ich frage mich jedes Mal, ob derjenige überhaupt noch lebt. Wer kontrolliert das? Die Nächte sind inzwischen bitterkalt geworden. Und dann sind da diese Schiffe. Diese extremen Gegensätze gehören sicherlich zu den schwarzen Seiten der Côte d’Azur. Dort, wo sich Freud und Leid treffen.


Monsieur L macht allen zu schaffen

Vom Leid der Menschen kriege ich auf Arbeit auch genug mit. Monsieur L´s Zustand hat sich weiter verschlechtert. An einem Mittwoch war es ganz schlimm. Ich war alleine mit Julie auf Schicht im batiment sud und sie war einige Minuten bei ihm. Als sie zurückkam, sagte sie, er hätte geweint und erklärt, dass er Angst hätte und seine Kinder sehen wollte. Ganz komisch, diese Vorstellung. In seinen besseren Zeiten habe ich ihn nie ein logisches Wort oder einen Satz mit Zusammenhang sagen hören und jetzt das. Es scheint zu Ende zu gehen mit ihm, und er spürt das so deutlich, dass er Sachen sagen und sich ausdrücken kann, die er in gesünderen Zeiten nicht zu Stande gebracht hätte. Julie hat das ziemlich mitgenommen, ihn so zu sehen und als sie weinend und völlig aufgelöst da saß, war außer mir keiner da, der sie trösten konnte. Ich habe mich etwas um sie gekümmert, aber ich hoffe, dass sich die Gründe dafür nicht häufen werden. Ich sehe sie lieber lächeln. Und die Bewohner lieber munter. Aber Monsieur L wird sterben, das fühlen Julie und ich irgendwie. Vielleicht ist es das Beste für ihn. Dann wird er endlich von seinen Leiden erlöst und mit Ende 80 hat er sein Leben ja auch schon gut gelebt.

Ich habe trotzdem Angst, dass er hier stirbt. Ich bin 20, der Tod hat in meinem Leben doch eigentlich noch nichts zu suchen. In meinem Alter beschäftigt man sich mit anderen Dingen. Aber eine Wahl habe ich ja nicht wirklich. Um es positiv zu sehen: Lieber früher sich mit der Materie vertaut machen, als zu spät. Mit einem wundervollen Himmel, kurz nach dem die Sonne am Horizont verschwunden war, verabschiede ich mich wieder für diese Wochen. Möge Monsieur L´s Sonne nicht das letzte Mal untergegangen sein.

Dienstag, 3. März 2009

Tag 79 bis 85, Woche 10

Ihr merkt es vielleicht an der Überschrift. Ab dem nächsten Bericht ändere ich bis auf Weiteres die Gliederung dieses Blogs und fasse mehrere Wochen in einem Text zusammen. Das liegt erstens einfach daran, dass nicht mehr so viel Spannendes passiert, wie am Anfang und ich das Gefühl habe, dass es mittlerweile etwas schwer ist, meinen Erlebnissen zu folgen, weil sie einfach von zu vielen Wörtern begleitet werden. Zur besseren Übersicht jetzt also die kleine Änderung. Außerdem muss sich ein Autor ab und zu mal was Neues einfallen lassen, damit ihm die Leser nicht davon laufen. Neu werden jetzt kleine Überschriften sein, zur besseren Orientierung. Ich weiß eh nicht, ob das hier überhaupt noch jemand liest. Manon tut es, das weiß ich. Plus meine Eltern wären das drei. Hey ihr anderen Schlafmützen, meldet euch mal zu Wort, damit ich weiß, dass ich nicht umsonst so viele Stunden meiner wenigen freien Zeit damit verbringe, Texte zu schreiben, die dann kaum einer liest.


Die Berge sind weiß

Die neue Woche brachte nicht viel Neues. Ich zähle die Wochen und Tage bis Paris. Ich kann es kaum erwarten, nach Berlin zurückzukehren nach so langer Zeit. Mir geht so viel im Kopf herum, wenn ich an den Moment denke, wenn ich in Schönefeld das Flugzeug verlassen werde. Wie wird es sich anfühlen? Ich bin schon sehr gespannt. Das ist neu für mich, dieses Heimkehren. Aber zuerst ist da der Arbeitsalltag und der ist mehr oder weniger der Selbe wie immer. Das Gegenteil stellt dafür das Wetter dar. Nie langweilig und nie gleich. Fast zeitgleich kamen Sylvie und Cathy zu mir, ob ich denn schon gesehen hätte, dass die Berge komplett weiß seien, die sich in einiger Entfernung hinter der Colline auftun. Am Abend zuvor war davon noch nichts zu sehen gewesen. Über Nacht hatte es dort scheinbar dermaßen heftig angefangen zu schneien, dass schon Mitte November auf den Gipfeln alles weiß war.

Im Laufe dieses Arbeitstages kam ich mit Bewohnern im Schlepptau mehrere Male an den Stellen der Colline vorbei, von denen aus man einen tollen Blick auf die Berge hat. Fast jedes Mal blieben die Bewohner stehen, um es sich kurz anzuschauen. So was sieht man hier schließlich nicht sehr oft. Es kam mir jedes Mal wie ein umgedrehtes Pompeji vor, in dem die Leute ehrfürchtig zum Vesuv hochschauen, der Gesprächsthema Nummer eins ist, weil er seit kurzem keine schneebedeckte Spitze mehr hat. Bei hohen Vulkanen ist das kein gutes Zeichen, denn es zeugt von Aktivitäten im Inneren, die den Schnee auf der Spitze schmelzen lassen. Dann ist immer Vorsicht angesagt. Der Vesuv ist kein erloschener Vulkan, aber seine Spitze war das letzte Mal schneefrei, als sein Ausbruch das kleine Städtchen Pompeji vernichtete.

Vulkane gibt es hier keine, aber trotzdem schaut man zu den hohen Bergen auf, die in seltener Pracht in den Himmel ragen. Ich würde gerne wenigstens einmal Skifahren gehen. Die Saison fängt meistens Anfang Januar an, wenn genug Schnee liegt. Aber dieses Jahr scheint das ja deutlich früher los zu gehen. Mal schauen, ob ich das hinkriege. Ich weiß gar nicht, ob ich überhaupt noch Ski fahren kann. War ja erst ein Mal und das ist 6 oder 7 Jahre her. In Süd-Tirol, als Klassenreise. War sehr toll, auch wenn ich drei Tage gebraucht habe, bis die Skier das machte, was ich wollte. Bis dahin war es immer umgekehrt gewesen. Selbst auf einer ebenen Fläche habe ich es hinbekommen, dass sich die Dinger in Bewegung setzten, ohne dass ich mich bewegte. Meistens rutschte ich rückwärts. Und da ich das mit dem Bremsen noch nicht so drauf hatte... Plums eben. Am dritten Tag waren wir schon etwas weiter und auch nicht mehr auf den Babypisten. Und als ich dran war, langsam und immer in Kurven einen kleinen Hügel runter zu fahren, bin ich zu schnell geworden und hatte keine andere Wahl mehr, als am Ende der Piste vor einem kleinen Abgrund vor den erstaunten Augen der anderen elegant abzubremsen und zum stehen zu kommen. So ganz ohne Plums. Coole Sache. Ab da fand ich das Skifahren extrem toll. Wär also mal ein Versuch wert, zu sehen, ob ich es noch kann. Wenn es so ist, wie Fahrradfahren, hab ich kein Problem. Denn das verlernt man ja nie. Sagt man zumindest.


Der nächste Ausflug

Am Donnerstag war es wieder soweit. Diesmal sollte es nach Antibes gehen. Also in genau die andere Richtung, wie die Woche zuvor. Ich fand das Spitze, denn so lernte ich während der Arbeitszeit ein bisschen besser die Gegend kennen. Die berühmte Klappe, die gleich zwei Fliegen schlägt. Madame Roche hatte Guy eine Liste mit Namen der Bewohner genannt, die diese Woche mit sollten. Kurz vor der Mittagspause erschien er dann aber im Centre, wo ich gerade mit Cathy eine Animation am Laufen hatte und sagte mir, dass sich alles geändert habe. Da es ja wieder um 13:30 Uhr los gehen sollte, suchte ich ihn gleich nach der Pause auf, um zu besprechen, wen wir alternativ mitnehmen könnten. Die Liste war schnell erstellt und ich machte mich auf die Suche nach den Bewohnern, um sie zu fragen, ob sie denn überhaupt mitfahren wollten. Bis auf Monsieur I wollten alle der Befragten und nachdem den Schwestern mitgeteilt worden war, wer die Colline für wenige Stunden verlassen würde, konnte es losgehen. Monsieur I ist einer der Künstler der Colline. Über 90 Jahre alt, aber kein Bisschen senil. Ein sehr kluger Mensch, der mir jedes Mal was von seinen Lebensweisheiten mit auf den Weg gibt, aber viel über die Gesellschaft meckert. Gerade bei der Revue de Presse läuft er zu Hochform auf. An sich finde ich das ja nicht schlecht, wenn das mal einer tut, aber irgendwann wünscht man sich dann doch, er würde ab und zu die CD wechseln. Aber er malt ganz fantastische Bilder, die überall in der Colline aushängen. Normaler Weise ist er jemand, der gerne mit auf Ausflüge geht. Diesmal halt nicht.

Das Wetter war absolut spitze, der Himmel war strahlend blau, keine einzige Wolke war zu sehen und in der Sonne war es sehr warm. Fast zu warm für meinen neuen, weißen Wollpulli. Den hatte ich mir bei C&A gekauft. Zusammen mit einer coolen Jeans. Man gönnt sich ja sonst nichts. Und das Beste daran: Wenn man zur Kasse geht und die Bügel vorher nicht abgenommen hat, packen die Verkäuferinnen die mit ein. Absicht oder Dusseligkeit? Egal, ich hatte bei mir in meinem kleinen Schrank nur zwei lächerliche Bügel. Ich wunderte mich zwar, hielt aber brav die Klappe. Neuen Pulli und als Bonus nen Kleiderbügel eingesackt. So geht man erfolgreich einkaufen. Im Schatten war es an diesem Donnerstag allerdings unangenehm kalt, daher war es vielleicht doch die bessere Wahl gewesen, den Pulli anzulassen. Zusätzlich nahm ich meine Jeansjacke mit und so ging es los.

Wir fuhren die gewohnte Strecke des 22er hinunter, bogen vor der Uni rechts ab und fuhren dann zur Promenade des Anglais. Auf der fuhren wir dann immer gen Westen. Vorbei am Flughafen, aber die Strecke kannte ich ja schon von letztem Samstag. Kurz hinter dem Flughafen kreuzt die Schnellstraße einen kleinen Fluss, der, aus den Bergen kommend, im Meer endet und irgendwie in mehrere kleine Rinnsale unterteilt ist. Als ich nach rechts blickte, kam mir das Bild, das sich mir bot, irgendwie bekannt vor. Die hohen Berge, der kleine Fluss, der ins Meer floss, die etwas karge Landschaft. Klingt vielleicht komisch, aber es erinnerte mich total an die Türkei. Der Abschnitt vor unserem Hotel 40 km von Antalya entfernt, in dem Mama und ich im Frühjahr 2006 waren, sah wirklich so ähnlich aus. Weitläufige Landschaft, die Häuser waren hier auch nicht sehr modern, dazu die Hintergrundkullisse mit den Bergen und dem kleinen Flüsschen. Passte alles. Nur die Sprache war anders. Und wenn ich stark genug daran dachte, glaubte ich fast, wirklich dort zu sein.

Wir folgten immer der Küste und irgendwann hinter dem Flughafen und dem Flüsschen erreichten wir das nächste kleine Städtchen. Cagnes sur Mer. Wunderschön, bereits im Vorbeifahren. Die Uferpromenade ist ähnlich wie die in Nizza angelegt, nur irgendwie schöner. Sie war weniger überlaufen und wirkte in dem Moment auch idyllischer. Nicht so international, nicht so groß. Eher ruhig, verträumt und bodenständig. Kann eine Promenade bodenständig sein? Manchmal fallen einem ja bekloppte Wörter ein und man weiß überhaupt nicht, ob sie gerade passen... Der Strand wirkte ebenfalls natürlicher. Nicht künstlich angelegt, für die Touristen. Die Steine sind aber auch hier sehr groß. Aber was ich sah, gefiel mir sehr. Rechter Hand kamen wir wenige Meter hinter dem Stadtkern an der riesigen Pferderennbahn vorbei. Hippodrome de la Côte d’Azur, so heißt es. Wahrscheinlich lassen hier im Sommer die Scheichs ihre Pferde gegeneinander antreten. Um was wetten wir heute? Um deinen kleinen Privatflieger? Um dein Haus? Ganz egal welches. Unglaublich, was sich einem für ein Protz bietet, wenn man Nizza einmal verlässt.

Die Straße verläuft übrigens immer ganz flach, direkt am Meer entlang, im Gegensatz zum Osten von Nizza, in dem wir die letzte Woche waren und wo die Straßen schon mal kleine Höhenunterschiede aufweisen. Und noch besser ist der fast durchgängige Radweg. Zweispurig. Bis zum Flughafen hatte ich den ja schon ausprobiert, aber dass er noch so viel weiter geht, hätte ich nicht gedacht. Dementsprechend viele Skater und Radfahrer waren unterwegs, um das tolle Novemberwetter zu genießen. Was für ein Widerspruch. Die Côte d’Azur macht es möglich. Und ich war mittendrin. In dem Moment fühlte ich mich irgendwie verdammt wohl. Wenn ich zurückdenke, hätte ich wohl nicht erwartet, dass es mir so gefallen würde. Na ja, nicht alles. Vor uns tat sich etwas auf. Noch in weiter Ferne sah man die Konturen eines riesigen Gebäudes auftauchen. Guy sagte, es wäre eins. Hätte er das nicht, ich hätte es für einen kleinen Berg gehalten. Meine Augen sind ja eh nicht mehr die besten. Jaja, das verdammte Alter. Je näher wir meinem Berg kamen, desto deutlicher erkannte ich dann aber doch, dass es das vielleicht hässlichste Gebäude war, das ich hier bisher gesehen hatte. Und das größte. Das Ganze ähnelte mehr einem ganzen Stadtteil. Mit eigenem Hafen. Dessen Einfahrt führt mitten durch das Haus hindurch. Wie ein großes Tor. Es ist ein sehr langes und auch recht hohes Haus. Guy erzählte mir, dass es eine Marina mit angeschlossenen Wohnungen sei. Alles Luxus pur. Hm, wer wird da wohl drin wohnen? Na ja, zu den Pferden ist es ja nicht weit.

Nachdem wir das alles hinter uns gelassen hatten, gelangten wir auf den Abschnitt der Straße, der immer geschlossen wird, wenn das Wetter spinnt. Jetzt wusste ich wieso. Viel trennt die Autos wirklich nicht von den Wellen. Und auch an diesem Tag war es inzwischen recht stürmisch geworden. Wir hielten kurz an. Ich wollte einige Bilder machen. Ich blickte auch einmal zurück. Echte Berge im Hintergrund und im Vordergrund dann das hässliche Teil, das ich für einen dieser Berge gehalten hatte. Auf dem Bild erkennt man gut den Schnee, und auch das ungemütliche Meer. Aber dieses Gebäude zerstört die ganze Landschaft. Wie kann man so was da hinbauen? 70 Prozent der Wohnungen darin stünden übrigens leer, wie Guy mir erklärte. Da wollte sich wohl nur ein durchgedrehter Investor verewigen. Ob der Bedarf solch einen Klotz rechtfertigt, scheint solchen Typen eh egal. Wir fuhren weiter auf der Straße am Meer entlang. Parallel zu uns verlief nun auch wieder die Eisenbahntrasse, die kurz hinter dem Flughafen einen kleinen Knick gemacht hatte, um die kleinen Städte zu umfahren. Zwischen den Ortschaften führt die Trasse dann oft wieder direkt am Meer entlang, immer parallel zur Straße.

Von Antibes hatte ich zum ersten Mal gehört, als ich mir bei studiVZ ein Fotoalbum von Sarah anschaute, die dort in den Sommerferien einmal Urlaub gemacht hatte. Sie ist in meinem Ruderverein und ne gute Freundin von Dario. Sie war zumindest noch in dem Verein, als ich weggegangen bin. Wie auch immer, ich wusste damals nicht, in welchem Land sich Antibes befindet. Und jetzt fuhren wir gerade am Ortseingangsschild vorbei. Gleich dahinter beginnt der Hafen. Inzwischen weiß ich, dass Antibes fast so groß wie Potsdam ist, und es die Schönen und Reichen ungefähr so anzieht, wie die Fliegen das Licht. Dementsprechend auch der Hafen. Warum kommt es mir nur so vor, als müsse man sich einfach die Häfen der Städte an der Côte d’Azur ansehen, um zu wissen, was sich dort für ein Klientel rum treibt. Oder anders ausgedrückt: Sind die Häfen von Monaco und Nizza voll... Antibes hat immer eine offene Hafeneinfahrt sozusagen. Aber man kann es den Reichen nicht mal übel nehmen, hierher zu kommen. Ist eine wunderschöne Stadt. Schon gleich am Anfang begrüßen einen begrünte Mittelstreifen und tolle Springbrunnen, während sich die Sonne am blauen Himmel in deren Wasser spiegelt und die Palmen das Ganze abrunden. Es machte einen extrem gepflegten Eindruck. Dazu muss man sagen, dass Nizza zwar die unbestrittene Hauptstadt der Côte d’Azur ist, sich aber nie zu schade ist, auch mal wie eine normal bürgerliche Stadt zu wirken. Das macht sie vielleicht erst so anziehend.

In dem Moment, in dem wir am Hafen vorbei fuhren, beneidete ich Cathy etwas, an so einem schönen Fleck zu wohnen. Wie war das? Das Gras auf der anderen Seite sieht immer grüner aus? Also sollte ich mich lieber glücklich schätzen, in Nizza gelandet zu sein. Ich behaupte mal, dass ich landschaftlich das herrlichste Projekt von allen 150 ASF-Freiwilligen ergattert habe. Obwohl ergattert da ja irgendwie das falsche Wort ist. Ist aber egal, es ist toll hier, alles andere ist nebensächlich. Auf jeden Fall hat sich Cathy nicht den schlechtesten Ort zum Leben ausgesucht. Antibes hat eine extrem gut erhaltene und restaurierte Altstadt und die alten Festungsmauern sind noch alle intakt. Hinter dem Hafen muss man diese Mauern durch ein relatives kleines Tor passieren, um in die Altstadt zu gelangen. Und die Welt dahinter ist nicht die selbe, wie davor. Kein Protz mehr, kein Luxus und keine Moderne. Nein, hier findet man sich im ersten Moment im 19. Jahrhundert wieder. Bis einem dann ein Mercedes CLS 600 entgegenkommt. Dann weiß man wieder, was Sache ist. Aber trotzdem laufen die Uhren hier anders. Alles scheint langsamer zu gehen. Schnell fahren kann man wegen des knappen Platzes innerhalb der Mauern nicht und die Bäckereien, die sich noch heute in Familienbesitz befinden, sind wie eh und je gut frequentiert. Nichts geht über ein duftendes, noch warmes Baguette. Die berühmte französische Lebensart eben.

Irgendwann verließen wir den alten Teil Antibes’ wieder und der bürgerliche Teil begann, mit normalen Wohnhäusern und großen Supermärkten. Als wir fast wieder außerhalb von Antibes waren, hielten wir an. Wir gingen in ein Strandcafe. Hier war der Strand wunderbar sandig. Von großen Steinen nichts zu sehen. Sollte ich mir merken. Die nächste Badesaison kommt bestimmt. Mit dem Rad bin ich in ner Stunde hier. Wir setzten uns alle in die Sonne, mit den Schuhen im Sand. Ist das geil. Das kann nicht mal das Zeitlos an der Spree toppen. Sorry Berlin. Aber Südfrankreich ist einfach Südfrankreich. Wir bestellten unsere Getränke. Ich nahm wieder die heiße Schokolade. Wird wahrscheinlich jetzt zur Tradition, dass ich bei jedem Ausflug nichts anderes nehmen kann, als das. Und 4 € die Woche kann ich auch noch verknusen. Gewohnt saftige Preise.

Als jeder sein Getränk hatte, lehnte ich mich einfach mal zurück, lies die anderen reden und atmete tief ein. So riecht normaler Weise die Luft, die man im Urlaub riecht. In dem Moment dachte ich nur: Ich bin im bezahlten Urlaub. Geil! Aus einer der großen Musikboxen, die im Sand standen, klang dann Hotel California von den Eagles. Okay, jetzt passte wirklich alles. Außer das mit dem Bezahlen. War der selbe Kampf, wie die Woche zuvor. Meine Stimmung war aber so gut, dass ich nur grinsend meine 4 € auf den Tisch legte und die Sonnenbrille wieder aufsetzte. Als Zahlmeister wurde ich nicht eingestellt. Gut, zum in der Sonne sitzen eigentlich auch nicht, aber es bot sich gerade so toll an.

Nachdem wir die Bewohner alle im Auto hatten und jeder vor- schriftsmäßig angeschnallt war, machten wir uns auf die Rückfahrt. Gegen 17 Uhr waren wir dann wieder in der Colline und ich begleitete zwei der Bewohner in ihre Gebäudeteile. Alle waren sie zufrieden gewesen, einen schönen Nachmittag am Strand verbracht zu haben. Dann wird es sie ja freuen, dass wir das nächste Woche wieder machen, sagte ich dann. Sie sind ein Schatz Simon, kriegte ich dann zu hören. Ja, schrecklich, wenn das so offensichtlich ist. Nein, das meine ich natürlich nicht wirklich so. Ich war noch nie eingebildet, das wird sich hier nicht ändern. Aber ich hatte noch nie so das Gefühl, einen verdammt guten Job zu machen, wie hier. Das darf man doch mal von sich sagen. Es gibt schließlich wenige Dinge, die so eine Herausforderung darstellen, wie eine Arbeit in einem fremden Land zu verrichten. Wenn man dann das Gefühl hat, alles total im Griff zu haben, kann man sich gerne auf die Schulter klopfen.

Mit einem wundervollen Sonnenuntergang war auch diese Woche vorbei und Weihnachten und damit Paris und Berlin rückten mit erstaunlich großen Schritten näher. Mit Cathy rede ich oft darüber und dann sagt sie immer, dass es ja nur noch knappe 4 Wochen seien. Aber nach so schönen Erlebnissen, wie dem Ausflug am Donnerstag, weiß ich gar nicht, ob ich nach Weihnachten traurig sein soll, Berlin wieder verlassen zu müssen, oder ob ich mich freuen soll, wieder an meine wunderschöne Côte d’Azur zurückzukehren. Erst mal muss ich es schaffen, in den wenigen Tagen in Berlin alles unter einen Hut zu kriegen. Mama hatte mich nämlich angerufen und erzählt, dass meine Mannheimer Tanten Gisela und Helga über Neujahr kommen wollen. Vielleicht zu früh, darüber nachzudenken.
Sicherlich werden mich viele Freunde sehen wollen, Geschenke muss ich auch noch kaufen, hier komme ich nicht dazu. Wird weniger entspannend, aber umso einmaliger.